Dr. Laurin Staffel 3 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Sie atmete auf und schloß die Tür ab.
Ruhiger geworden, setzte sie sich zu Rolf Hilger, und nun erfuhr sie, was er heute abend erlebt hatte.
»Dies alles kam mir so merkwürdig vor, daß ich mich verpflichtet fühlte, Sie davon in Kenntnis zu setzen, Frau Rickmann«, sagte er sehr höflich und zurückhaltend. »Als Angestellter der Arnold-Werke, das konnte Frau Arnold-Mattis natürlich nicht wissen, fühlte ich mich doppelt verpflichtet.«
»Das wußte ich auch nicht«, sagte Mirja geistesabwesend, »aber ich denke, daß Herr Arnold sich Ihnen erkenntlich zeigen wird für Ihre Loyalität, Herr Hilger. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Wir sind ja Nachbarn«, sagte er verlegen, »und bitte, entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe getreten sein sollte. Es war nicht böse gemeint. Ich dachte wirklich nur daran, daß Sie abends auch immer allein sind.«
Mirjas Gedanken waren schon weitergewandert. »Sie sagten, daß Frau Arnold-Mattis Sie eingeladen hat?« fragte sie. »Nein, ich will keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen, aber eventuell könnten Sie Herrn Arnold einen Dienst erweisen, wenn Sie diese Einladung annehmen würden. Ich muß mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen und mit ihm darüber sprechen. Aber das ist nur eine Idee.«
»Warum sollte ich den Spieß nicht umdrehen?« meinte er.
»Ja, warum sollten wir das eigentlich nicht?« Mirja wurde lebhaft. Alles war ihr noch einmal durch den Kopf gegangen. Rolf Hilger hatte keinerlei Veranlassung, ihr das alles zu erzählen, wenn er es nicht ehrlich meinte.
Auch ihr kam der Gedanke, daß er sich einen beruflichen Vorteil davon versprach. Aber den konnte er nur von Benedikt erhoffen, nicht von Irene.
Guter Gott, nun spann auch sie schon Intrigen. Aber sie rechtfertigte sich mit dem Gedanken, daß sie nur Benedikt helfen wollte.
*
Nachdem Rolf Hilger gegangen war, bereitete sie sich einen Glühwein und aß ein Stück Fladenbrot dazu. Vor ihr auf dem Tisch lag der Umschlag mit der Aufschrift:
Nach meinem Tode zu öffnen.
Zwischen ihr und Mutter war doch immer alles klar gewesen. Niemals hatten sie Geheimnisse voreinander gehabt.
Was zögerte sie eigentlich noch? Sie sah das schmale gütige Gesicht ihrer Mutter vor sich. Wie sie gelebt hatte, so war sie gestorben, still, bescheiden, nie etwas für sich fordernd.
»Du wirst deinen Weg gehen, mein Kind. Es macht mich froh«, hatte sie nicht nur einmal gesagt. »Du warst mein ganzes Glück«, waren ihre letzten Worte gewesen.
Nun griff Mirjas Hand nach diesem Umschlag und zögerte nicht.
Ein paar Fotografien fielen ihr als erstes ins Auge. Ein herrliches Haus stellte die eine dar, eine andere junge, bildschöne Frau. Mirja entdeckte eine Ähnlichkeit mit sich selbst, aber sich selbst so schön zu finden, hätte sie nie gewagt.
Dann breitete sie fast automatisch die dichtbeschriebenen Seiten vor sich aus.
Sie konnte nicht glauben, was sie da las. Es klang wie ein Roman, niedergeschrieben von der Hand ihrer Mutter, aber doch mit solcher Ausdruckskraft, daß sie sich in dieses Geschehen hineinversetzt fühlte. Es war so, als würde sie es erleben, und damals hatte ihr Leben gerade erst begonnen. Vor einundzwanzig Jahren war dies geschehen.
Die junge Frau des Gutsbesitzers Johannes von Korten sah der Geburt ihres Kindes entgegen, rührend betreut von Anna Rickmann, der Verwaltersfrau. Freundinnen waren sie, wenngleich darüber kein Wort laut wurde.
Johannes von Korten, der seine Frau eifersüchtig liebte, hätte es nicht geduldet, daß seine Frau Mirja sich so ausnehmend gut mit der Angestellten Anna Rickmann verstand, die er jedoch wegen ihrer Zuverlässigkeit schätzte. Anna Rickmann war zehn Jahre älter als Mirja von Korten und hatte gerade vor zwei Wochen eine Fehlgeburt gehabt. Sie war aller Hoffnung auf ein Kind beraubt worden und tiefunglücklich darüber. Doch gerade deshalb war sie nun doppelt besorgt um ihre junge Chefin.
Noch hatte der Gutsherr schwere Geschäftsjahre nicht ganz überwunden. Es gedieh nach mühsamer Arbeit auf den Feldern wieder das Korn, und er konnte wieder daran denken, Pferde zu züchten, wie es Generationen vor ihm getan hatten. Er war auf der Pferdeauktion, als das Unglück geschah.
Mirja von Korten war es schwindelig geworden, als sie nach einem Mittagsschlaf die Treppe hinunterging. Sie konnte sich nicht mehr festhalten und stürzte die letzten Stufen hinab. Auf ihren Schrei hin eilte Anna Rickmann voller Entsetzen herbei und sah die junge Frau am Boden liegen. Sie alarmierte sofort den Arzt, aber der war über Land gefahren. In ihrer Angst benachrichtigte sie die Hebamme, doch bis diese eintraf, war die Geburt schon im Gange.
Anna Rickmann tat, was sie konnte, um der jungen Frau zu helfen, und das war sehr gut. Sie hielt ein kleines Mädchen in ihren Händen, das kein Lebenszeichen von sich gab. Aber wenig später kam ein zweites, und das schrie sich ins Leben, so kräftig, daß Anna Rickmann wie erstarrt war.
Mirja von Korten hatte Zwillinge geboren, aber Anna Rickmann dachte in diesem Augenblick nur an das leblos scheinende kleine Wesen, und sie dachte, wie grausam es für die junge Mutter sein müsse, eines der Zwillinge verloren zu haben.
Von der Angst gepeitscht, ihr dieses zu ersparen, trug sie das Kind in ihr Zimmer, und da war es ihr, als gäbe es einen Laut von sich.
Aber drunten läutete es Sturm, und sie rannte wieder zurück.
So hatte es Anna Rickmann dann aufgezeichnet:
Ich weiß nicht, was in mir vor sich ging. Ich wollte meiner geliebten Freundin Mirja den Schmerz ersparen und dachte nichts anderes. Die Hebamme war gekommen und tat nun alles Weitere. Sie scheuchte mich hinaus, und dann kam auch der Arzt. Ich lief in mein Zimmer, weil niemand mich brauchte. Man sah mich an, als hätte ich das Unglück verursacht. Ich war verzweifelt. Da hörte ich das Kind wimmern, das ich tot geglaubt hatte und das in meinem Bett lag. Ich dachte voller Entsetzen, daß es hätte ersticken können unter der Decke und wollte es nun hinuntertragen. Doch dann dachte ich an die feindseligen Blicke und fürchtete mich. Ich wollte doch nichts Unrechtes tun. Ich wollte nur meiner jungen Chefin, die so gut zu mir gewesen war, noch mehr Leid ersparen.
Dann geschah das Fürchterlichste, Stunden später. Herr von Korten war zurückgekommen, aber seine Frau Mirja starb in seinen Armen.
Er ließ mich rufen und sah mich auch so feindselig an, als wäre ich schuld an allem, und vielleicht war ich schuld, weil ich nicht bei ihr war, als sie die Treppe hinabging.
Er tat mir so entsetzlich leid, denn ich wußte, wie sehr er seine Frau geliebt hatte, aber ich konnte nichts sagen. Meine Lippen waren verschlossen, und in mir war nur Angst und Schmerz.
Wir mußten noch am gleichen Tag den Hof verlassen. Franz begriff es nicht. Er wollte aufbegehren und mich in Schutz nehmen, aber wie konnte er das, da er doch Herrn von Korten begleitet hatte.
Wir gingen, und um nicht alles noch schlimmer zu machen, nahm ich das winzige Wesen mit, dem ich keine Überlebenschance gab. Aber was sollte ich tun? Seine Mutter war tot. Niemand würde mir glauben, daß ich nichts Böses wollte, und wenn das Baby nun starb, würde man mir auch daran die Schuld geben.
Franz war außer sich, als ich ihm alles sagte, aber er hielt zu mir, und ich tat alles, um dieses kleine Leben zu erhalten.
Wir hatten uns etwas erspart. Wir fuhren gleich in die nächste Klinik mit dem Kind und sagten, daß ich das Kind nach einem Unfall zu früh zur Welt gebracht hätte. Sie haben es untersucht, und ich konnte nicht begreifen, daß alles vorüberging, ohne daß jemand mißtrauisch wurde. Das Kind blieb am Leben. Ich wollte, daß es den Namen seiner Mutter bekam. Nun aber war es mein Kind.
Verzeih mir, Mirja, mein geliebtes Kind. Ich konnte Dich nicht mehr hergeben. Wenn mein Gewissen mich fast erdrückte, sagte ich mir immer wieder, daß ihm, Johannes von Korten, ein Kind geblieben sei. Ich konnte nicht viel für Dich tun, aber ich habe Dich geliebt wie eine Mutter.
Es war seltsam, aber Mirja konnte jetzt nichts anderes denken als dies: Daher also die Ähnlichkeit!