Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф КонрадЧитать онлайн книгу.
leer sein würden. Ich wandte den Kopf zurück nach einem scharfen Blitz, der das Ruderhaus durchquerte, beim einen Fensterladen herein, zum andern hinaus. Als ich nach dem närrischen Steuermann sah, der das leere Gewehr schwang und zum Ufer hinüberbrüllte, bemerkte ich undeutliche Gestalten von Männern, die tiefgebückt hinrannten, sprangen und glitten. Etwas Großes erschien in der Luft vor der Fensteröffnung, die Büchse fiel über Bord, der Mann trat schnell zurück, sah mich über seine Schulter weg mit einem ganz ungewöhnlichen, ich möchte sagen vertrauten Ausdruck an und fiel über meine Füße. Seine Schläfe schlug zweimal gegen das Rad, und das Ende eines langen Rohres klapperte herum und warf einen kleinen Feldstuhl über den Haufen. Es sah aus, als hätte er das Ding jemand am Ufer aus den Händen gerissen und bei der Anstrengung das Gleichgewicht verloren. Der dünne Rauch war verflogen, wir waren klar von dem Baumstamm und ein Blick voraus belehrte mich, daß ich nach weiteren hundert Metern ungehindert würde abfallen können, vom Ufer weg; meine Füße fühlten sich so warm und feucht an, daß ich hinuntersehen mußte. Der Mann war auf den Rücken gerollt und starrte gerade zu mir empor; er hielt mit beiden Händen das Stück Rohr umklammert. Es war der Schaft eines Speeres, der, durch die Öffnung entweder geschleudert oder gestoßen, ihn gerade unterhalb der Rippen getroffen hatte; das Blatt war tief eingedrungen, nicht mehr zu sehen und hatte eine scheußliche Wunde gemacht; meine Schuhe waren naß; eine Blutlache lag ganz ruhig, rot leuchtend unter dem Rad; die Augen des Mannes glänzten vor Verwunderung. Wieder brach das Schützenfeuer los. Er sah mich ängstlich an und umklammerte dabei den Speer, wie etwas Kostbares, mit einem Ausdruck, als fürchtete er, ich würde versuchen, ihn ihm wegzunehmen. Ich mußte mich zusammenreißen, um meine Augen von ihm wenden und auf den Kurs achten zu können. Mit einer Hand fühlte ich über meinem Kopf nach der Dampfpfeifenleine und ließ schnell hintereinander Pfiff um Pfiff erschallen. Das Durcheinander wütender und kreischender Rufe brach sofort ab, dann erscholl aus den Tiefen der Wälder eine so zitternde, langgezogene Klage, voll Trauer, Furcht und äußerster Verzweiflung, wie sie wohl dem Abschied der letzten Hoffnung von der Erde folgen könnte. Es gab eine große Bewegung im Busch; der Pfeilregen hörte auf. Einige vereinzelte Schüsse knallten noch scharf – dann ein Schweigen, währenddessen der langsame Schlag des Heckrades deutlich an mein Ohr kam. Ich legte das Ruder hart nach Steuerbord, im Augenblick, als der Pilger im roten Pyjama ganz erhitzt und aufgeregt in der Türe erschien. ›Der Direktor schickt mich…‹ begann er im Dienstton und brach kurz ab. ›Großer Gott‹, sagte er, mit einem Blick auf den Verwundeten.
Wir beiden Weißen standen über ihn gebeugt, und sein glänzender, forschender Blick umfaßte uns beide. Ich sage euch, es sah aus, als wollte er uns jeden Augenblick in verständlicher Sprache eine Frage stellen; aber er starb, ohne einen Laut von sich zu geben, ohne ein Glied zu rühren, ohne mit den Muskeln zu zucken. Erst im allerletzten Augenblick, wie als Antwort auf ein Zeichen, das wir nicht sehen, auf ein Flüstern, das wir nicht hören konnten, erst im letzten Augenblick runzelte er schwer die Stirn, und dieses Runzeln gab seiner schwarzen Totenmaske einen unbeschreiblich düsteren und drohenden Ausdruck. Der Glanz des forschenden Blickes verging schnell in glasige Leere. ›Können Sie steuern?‹ fragte ich den Agenten hastig. Er sah recht zweifelhaft drein; aber ich faßte nach seinem Arm, und er begriff sofort, daß ich ihn steuern machen wollte, ob er es konnte oder nicht. Um die Wahrheit zu gestehen, hatte ich es äußerst eilig, meine Schuhe und Socken zu wechseln. ›Er ist tot‹, murmelte der Bursche tief erschüttert. ›Kein Zweifel darüber‹, sagte ich und zerrte wie verrückt an den Schuhbändern; ›und, nebenbei gesagt, glaube ich, daß Herr Kurtz jetzt schon ebenso tot ist.‹
Für den Augenblick war das der vorherrschende Gedanke. Ich hatte das Gefühl äußerster Enttäuschung, als hätte ich herausgefunden, daß ich auf etwas völlig Unwirkliches aus gewesen war. Ich hätte nicht enttäuschter sein können, hätte ich diesen ganzen Weg zu dem einzigen Zwecke zurückgelegt, um mit Herrn Kurtz sprechen zu können. Sprechen mit… Ich warf einen Schuh über Bord und merkte, daß es gerade das war, worauf ich mich gefreut hatte – ein Gespräch mit Kurtz. Ich machte die merkwürdige Entdeckung, daß ich mir ihn niemals handelnd, sondern immer nur redend vorgestellt hatte. Ich sagte mir nicht, ›nun werde ich ihn niemals sehen‹, oder ›nun werde ich ihm nie die Hand schütteln‹, sondern ›nun werde ich ihn niemals hören.‹ Der Mann erschien mir als eine Stimme. Nicht, als ob ich ihn mit keinerlei Handlung in Verbindung gebracht hätte.
Hatte man mir nicht, in allen Tönen der Eifersucht und Bewunderung, gesagt, daß er mehr Elfenbein gesammelt, eingetauscht, erschwindelt oder gestohlen hatte, als alle die anderen Agenten zusammen? Das war es nicht. Der Schwerpunkt lag in der Tatsache, daß er so reich begabt war und daß von allen seinen Gaben die vorherrschende, die, die sich unaufhörlich bestätigte, seine Rednergabe war, seine Worte – die Gabe des Ausdrucks, die verblüffende, erleuchtende, die erhabenste und verächtlichste, ein brausender Strom von Licht oder eine tückische Flut aus dem Herzen einer undurchdringlichen Finsternis.
Auch der andere Schuh flog zu dem Oberteufel des Flusses hinunter. Ich dachte: ›Bei Gott, nun ist alles vorbei. Wir sind zu spät dran; er ist dahingegangen – seine Gabe ist mit ihm verschwunden, durch irgendeinen Speer, einen Pfeil oder eine Keule. Nun werde ich schließlich den Burschen niemals reden hören – und mein Kummer erreichte eine erstaunliche Gefühlsstärke, fast jener gleich, die ich aus dem Klagegeheul der Wilden im Busch herausgehört hatte. Ich hätte mich nicht trostloser und verlassener fühlen können, hätte man mich eines Glaubens beraubt, oder hätte ich meinen Lebenszweck verfehlt… Warum seufzt denn da einer von euch so niederträchtig? Töricht? Nun gut, töricht. Großer Gott! Muß denn ein Mann immer…. Da, gebt ein bißchen Tabak her…«
Es gab eine lautlose Pause, dann blitzte ein Streichholz auf, und Marlows mageres Gesicht erschien, müde, verfallen, mit senkrechten Falten und geschlossenen Lidern, im Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit; und als er kräftig an seiner Pfeife sog, schien das Gesicht, im regelmäßigen Flackern der kleinen Flamme, aus der Nacht auf-und wieder dahin zurückzutauchen. Das Streichholz verlöschte.
»Töricht«, rief er. »Das ist das Ärgste, wenn man zu erzählen versucht… Da seid ihr alle, jeder an zwei guten Adressen festgemacht, wie ein Hulk an zwei Ankern, der Fleischer ums eine Eck, der Wachmann ums andere, vorzüglicher Appetit, Temperatur normal, hört ihr, normal, jahrein, jahraus. Und ihr sagt töricht! Zum Teufel mit eurem Töricht! Töricht! Meine lieben Jungen, was könnt ihr von einem Mann erwarten, der aus reiner Nervenüberreizung eben ein Paar neue Schuhe über Bord geworfen hatte! Wenn ich es jetzt überdenke, dann wundert es mich, daß ich keine Tränen vergoß. Ich bin im allgemeinen stolz auf meine Seelenstärke. Ich litt schwer unter dem Gedanken, daß ich den unschätzbaren Vorzug verloren haben sollte, dem reichbegabten Kurtz zuzuhören. Natürlich irrte ich mich darin. Der Vorzug erwartete mich. O ja, ich hörte noch mehr als genug. Und ich hatte auch recht. Eine Stimme. Er war nur ganz wenig mehr als eine Stimme. Und ich hörte – ihn – sie – diese Stimme – andere Stimmen – sie alle waren so wenig mehr als Stimmen und die Erinnerung an die Zeit selbst umgibt mich, unfaßbar, wie ein ersterbendes, ungeheures Geschnatter, dumm, grausam, schmutzig, wild, oder einfach gemein, ohne jeden Sinn. Stimmen, Stimmen und sogar das Mädchen selbst – nun…«
Er schwieg lange.
»Ich rettete schließlich das Andenken an seine Gabe mit einer Lüge«, begann er plötzlich. »Mädchen! Was? Habe ich ein Mädchen erwähnt? Oh, sie hat gar nichts damit zu tun, ganz und gar nichts. Sie – die Frauen meine ich – haben nichts damit zu tun –, sollten auch nichts damit zu tun haben. Wir müssen ihnen behilflich sein, in ihrer eigenen wunderschönen Welt zu bleiben, sonst würde unsere dadurch schlimmer werden. Oh, sie konnte nichts damit zu tun haben. Ihr hättet den ausgegrabenen Leib des Herrn Kurtz sagen hören sollen: ›Meine Braut‹, dann hättet ihr sofort begriffen, wie ganz und gar nichts sie damit zu tun hatte. Und die hohe Stirn des Herrn Kurtz! Man sagte ja, das Haar wachse manchmal weiter, aber dieses – hm – Exemplar war ganz erstaunlich kahl. Die Wildnis hatte ihm auf den Kopf getätschelt, und seht nur, er war zum Ball geworden, zum Elfenbeinball; sie hatte ihn gestreichelt, und seht, er war runzelig geworden; sie hatte ihn umfaßt, geliebt, umarmt, war in seine Adern gedrungen, hatte sein Fleisch verzehrt und seine Seele, durch irgendwelche höllischen Weihen, der ihren vermählt. Er war der verwöhnte, verzogene Günstling der Wildnis. Elfenbein? Es war anzunehmen. Haufen davon.