Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
sich das obere Ende seinen Blicken entzog. Ein dicker Teppich dämpfte jeden Schritt. Zwischen den Regalen gab es kleine Leseecken, gemütliche Sofas und Tische. In der Luft hingen leuchtende Kugeln, die ein warmes Licht verströmten. Zeit seines Lebens hatte Alex Büchern, Bibliotheken, ja, dem Lesen an sich nicht viel abgewinnen können. Fast erwartete er, eine geifernde Schreckschraube aus dem Schatten treten zu sehen, die ihn ermahnte, hier nichts zu essen.
»Alter, hast du dich verirrt?« Chris kam auf ihn zugeschlendert. Mittlerweile trug er eine Lederjacke über seinem Muskelshirt, wodurch das Tattoo verdeckt wurde.
Sie musterten sich gegenseitig abschätzend.
»Na ja, ihr wart so beschäftigt, und da …«
»… wurde dir langweilig, schon klar. Jen ist gerade etwas durch. Lass uns was trinken gehen.« Chris schlug ihm auf die Schulter.
»Es ist früher Morgen. Wo sind wir hier überhaupt?«
Der Lichtkämpfer lachte. »Du hast noch so viel zu lernen, Newbie. Wird etwas dauern, bis wir den Nimag aus dir raushaben. Das Castillo steht in Spanien, Alicante, um genau zu sein. Aber es gibt ja die Sprungportale. Irgendwo auf der Welt ist immer Nacht und immer Party.«
Das waren Worte, die Alex verstand. Nach all dem Chaos benötigte er ein Stück Normalität. »Gehen wir.«
Chris führte ihn hinab in die Gewölbe. »Im Erdgeschoss des Castillos gibt es die normalen Räume des alltäglichen Lebens. Küche, Wäscherei, einen Salon, all das Zeug. Im ersten Obergeschoss sind alle Privaträume untergebracht. Der Flügel mit den Büros der Unsterblichen ist über einen Verbindungsgang angeschlossen.«
Er deutete in die Richtung.
»Ein paar von uns leben komplett hier, andere besitzen noch ihr altes Leben, gehen täglich zur Arbeit und mischen im Kampf nicht direkt mit. In den höher gelegenen Stockwerken und den Türmen sind Bibliotheken, die Krankenräume, Labore, Experimentiersäle und die Vorlesungssäle untergebracht.« Bei Letzterem zwinkerte er Alex zu. »Mal schauen, wie es dir gefällt.« Nach einer ewig erscheinenden Treppe standen sie in einem runden Raum, von dem zahlreiche kleinere abzweigten. »Darf ich vorstellen, unsere Zugänge zum Portalnetzwerk.«
»Fehlen nur die Plattform und Scotty.«
Chris lachte auf. »Das sagen sie alle.«
»Was genau sind diese Portale?«
»Die Aborigines in Australien entdeckten sie zuerst«, erklärte der Lichtkämpfer. »Sie nannten sie Traumzeitpfade. Songlines. Das Netzwerk erstreckt sich über die ganze Erde. Es gibt feste Zugangspunkte in fast jeder größeren Stadt. Bis heute ist das Netz noch nicht vollständig erforscht, es existieren nach wie vor unentdeckte Zugänge. Portalmagier lassen es wachsen und manifestieren neue stabile Portale an wichtigen Punkten. Das dauert allerdings.«
»Und diese Sprungmagier, von denen ihr vorhin gesprochen habt?«
»Die brauchen das Netz nicht, die Glücklichen. Sie können Kurzzeitportale erzeugen, die nach wenigen Minuten wieder zusammenbrechen.«
Alex runzelte die Stirn. »Warum ›die Glücklichen‹?«
»Das erzähle ich dir am Ziel«, sagte er. Sie betraten einen der Räume. Auf dem Boden war ein Pentagramm eingemeißelt. Es war umgeben von eingeschlagenen Machtsymbolen. »Du stellst dich vor das Pentagramm, malst dieses Symbol in die Luft«, seine Finger erschufen Linien aus glühendem Rot, »und konzentrierst dich auf das Ziel.« Das Symbol verschwand. »Probier es.«
»Aber … welches Ziel?«
»Lass mal überlegen, wo ist denn gerade Nacht? New York bietet sich doch immer gut an.«
Alex wollte weitere Fragen stellen, Chris wedelte allerdings ungeduldig mit der Hand. Also nahm er den Platz des Lichtkämpfers ein und erschuf das Symbol. Im gleichen Augenblick bildete sich vor seinem geistigen Auge ein gewaltiges Netzwerk aus silbernen Punkten und Linien, die diese miteinander verbanden.
»Kontinent«, erklang Chris’ Stimme.
Alex dachte an Nordamerika. Eine Sammlung aus Punkten wurde in den Fokus gerückt.
»Jetzt kannst du die Punkte einzeln untersuchen, oder du denkst direkt an eine Stadt. Wenn es dort kein Portal gibt, wird das am nächsten liegende gewählt.«
Er musste nur »New York« denken und einer der glühenden Punkte zoomte heran. Er ließ ihn einrasten. Ein Silberschimmer ging davon aus, raste das Netzwerk entlang und verband das Portal mit dem hiesigen Zugang.
Alex sprang zurück, als vor ihm ein Wabern in der Luft entstand.
»Na dann, wir sehen uns auf der anderen Seite.« Mit einem Grinsen auf dem Gesicht glitt Chris in den Portalzugang.
Mit rasendem Puls und nassen Handflächen machte Alex einen Schritt nach vorne. Die Welt wurde zusammengepresst, Farben wurden zu Gerüchen, Gerüche zu einer Tonfolge. Oben war unten, alles war nichts. Die Reise dauerte eine Sekunde und eine Ewigkeit.
Als er die andere Seite erreichte, benötigte er eine volle Minute, sich seines Körpers bewusst zu werden. Dann brach er in die Knie und kotzte den kläglichen Rest seines Mageninhaltes aus.
»Schon wieder!«, erklang ein wütender Ausruf mit chinesischem Akzent. »Warum müsst ihr die Neuerweckten immer hierherbringen?!«
»Ach, komm schon, Wang Li, das ist ein Ritual.« Chris wollte ihm kameradschaftlich auf die Schulter schlagen, doch der Mann wich zurück.
»Aha. Und wenn sie betrunken zurückstolpern und das Ganze wiederholen, ist es das auch?«
»Du hast es begriffen«, gab Chris zurück. »Den Putzzauber kannst du doch mittlerweile locker aus dem Handgelenk.«
Alex war soweit, dass er wieder aufstehen konnte. Dachte er. Prompt fiel er auf den Arsch. Sein Gleichgewichtssinn war völlig im Eimer.
»Gib deinem Körper ein paar Minuten.« Chris lehnte lässig an der Wand. »Nach drei bis vier Durchgängen hast du dich dran gewöhnt.«
»Deshalb also lieber ein Sprungmagier?«
»Exakt.«
Nach weiteren fünf Minuten half Chris ihm auf die Beine, reichte ihm einen Kaugummi, und sie verließen Wang Lis Laden, unter dem sich der Portalzugang befand. Sie waren in Chinatown herausgekommen. Mit ein wenig Magie fand sich problemlos ein Taxi, das sie zur nächstgelegenen Disco brachte.
Die folgenden Stunden versanken in Alkohol, tanzenden, verschwitzten Leibern und verdammt heißen Girls. Chris wusste eindeutig, wie man feierte.
9. Im dunklen Spiegel
»Mit so etwas mussten wir wohl rechnen. Parasiten können einfach nicht widerstehen, wenn ihnen eine solche Chance unterkommt.« Er betrachtete die Schattenfrau eingehend.
Seine Verbündete war ebenfalls unsterblich, obgleich niemand wusste, wie alt sie tatsächlich war. Kein Wesen auf der Erde schien zu wissen, wer sich unter dem Nebelfeld verbarg. Hätte sie ihre Identität offenbart, wäre sie längst auch ein Teil des dunklen Rates gewesen. Doch sie wollte lieber ihre eigenen Wege gehen. Eine gefährliche Einstellung. Angeblich war sie bereits vor einhundertsechsundsechzig Jahren zugegen gewesen, als der Wall errichtet wurde.
Der Einzige, der das bestätigen konnte, war der Verräter, der den Schattenkämpfern damals den Zugang zum Castillo geöffnet und die blutige Schlacht erst möglich gemacht hatte. Für diese grausame Tat war er in die Reihen des Rates aufgenommen worden. Er schwieg jedoch zu allem, was mit der Blutnacht von Alicante zusammenhing.
»Der Parasit ist nun Asche. Alexander Kent wurde von Jennifer Danvers abgeholt.«
»Wir bewegen uns auf gefährlichem Terrain.« Der Graf von Saint Germain wusste nur zu genau, was ein Scheitern bedeutete. »Falls wir uns irren, haben wir den Lichtkämpfern einen Gefallen getan.«
»Machen