Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
heraus.
Sie hatte ihn in seinem Refugium in Italien aufgesucht. Der landläufige Herrschersitz bot allen Komfort und war über ein Schattenportal mit der Ratskammer verbunden. Die Unbeständigkeit dieser Tage machte es notwendig, nur einen Schritt von dem Ort entfernt zu sein, an dem die Entscheidungen getroffen wurden.
»Ihre Zuversicht in allen Ehren«, sagte er, »aber ich halte es mit Realismus und Pragmatismus.«
»Ist denn etwas geschehen, das Sie zweifeln lässt, Graf?«
Er musste ihr zugestehen, dass sie bisher alle Absprachen eingehalten hatte. »Nein. Sie genießen weiterhin das Wohlwollen des Rates. Sorgen Sie nur dafür, dass sich der Einsatz auch lohnt. Der Wall muss fallen.« Sie saßen gemeinsam auf der Terrasse. Der Herbst hatte seine gierigen Finger nach dem Land ausgestreckt, doch eine Illusionierung ließ es so wirken, als wäre gerade Hochsommer. Der Graf trug eine Stoffhose und ein offenes Hemd. Neben ihm stand ein Glas Spätburgunder aus Deutschland. »Diese Machtlosigkeit, absichtlich herbeigeführt. Es ist genug. Der Wall muss fallen – und mit ihm die Lichtkämpfer.«
»Es ist ein verflochtenes Netz, das ich seit einer langen Zeit webe. Nun, einhundertsechsundsechzig Jahre nach der Erschaffung des Walls, scheinen die Dinge in Bewegung zu geraten. Auch jene, die keiner von uns beeinflussen kann. Alexander Kent ist der Schlüssel.«
»Falls der Foliant Recht behält.«
»Ich bitte Sie, Graf.« Ein leises Lachen erklang, das ihm kalt den Rücken hinablief. »Warum denken Sie, haben Johanna und Leonardo den Folianten einer Wächtergruppe anvertraut und alle Hinweise auf ihre Identität verschwinden lassen?«
»Da gibt es viele Möglichkeiten«, sagte er. »Paranoia? Gesundes Sicherheitsdenken?«
»Ein guter Punkt. Aber vertrauen Sie mir, nur dieses eine Mal. Alexander Kent ist der Schlüssel. Es gibt noch ein paar Dinge, die mich beunruhigen, doch das gehört wohl zum Geschäft. Sie sehen, lieber Graf, auch ich bin nicht unfehlbar.«
Die Art und Weise, wie sie das sagte, machte deutlich, dass sie genau das Gegenteil meinte. Diese Frau war gefährlich. Saint Germain hatte ihren Tod längst beschlossen, allerdings musste sie zuvor den Plan für ihn zu Ende bringen. Was immer es kosten mochte, das Castillo musste fallen, der Wall ebenfalls. Und der Lichtrat durfte es nicht kommen sehen. »Was ist mit dem Bund des Sehenden Auges?«
Die Schattenfrau zischte wütend. »Diese Idioten waren nicht Teil des Plans. Als sie auftauchten, musste ich eine Entscheidung treffen. Mark Fentons Tod war wichtiger als der Schutz des Folianten.«
»Hm.« Er trank einen Schluck Wein, ließ das Aroma aus seinem Mund durch die Nase steigen und die blutrote Flüssigkeit den Hals hinabrinnen. »Dann hoffe ich für Sie, dass diese Kutten tragenden Banausen niemals dazu in der Lage sind, den Inhalt des Buches zu lesen.«
Die Schattenfrau ging auf der Terrasse auf und ab, es wirkte, als schwebe eine nebulöse Silhouette an ihm vorbei. »Vermutlich wird es ihnen gelingen.«
»Wie bitte?!« Beinahe hätte er das Weinglas fallen lassen.
»Kein Grund zur Sorge. Ich habe einen Plan, in einem Plan, in einem Plan. Das sind die besten.«
Die ganze Sache gefiel ihm immer weniger. So viele Puzzleteile surrten durch die Luft, dass ihre Feinde unweigerlich eines davon bemerken mussten. Je nachdem, wann dies geschah und um welche Information es sich handelte, konnte das gesamte Kartenhaus noch zusammenbrechen. Vermutlich würden die anderen ihn in einem Tribunal verurteilen, ihm seine Unsterblichkeit entziehen und sein Todesurteil besiegeln.
»Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass das alles kein Spiel ist«, spuckte er förmlich aus. »Es geht um mein Leben und, das versichere ich Ihnen, auch um das Ihre. Der gesamte dunkle Rat beobachtet genau, was wir tun. Erfolg ist nicht optional. Er ist ein Muss. Falls wir scheitern, wird kein Nebel, kein Schattenwurf, keine Magie der Welt Sie davor bewahren können, vom Antlitz dieser Erde getilgt zu werden.«
Nur das magisch erzeugte Zwitschern der Vögel durchbrach das Schweigen.
»Mein lieber Graf, ich weiß sehr genau, was ich tue. Glauben Sie mir. So war es schon immer.«
Bei diesen Worten schwang so viel Hass in ihrer Stimme mit, dass Saint Germain erstmals die Wahrheit sah. Hier ging es nicht um Gier nach Macht, wie sie alle anderen antrieb, oder zumindest nicht nur. Die unbekannte Schattenfrau wollte Rache. Die Lichtkämpfer mussten ihr vor sehr langer Zeit übel mitgespielt haben. Möglicherweise findet sich in den Archiven doch mehr als nur verstaubte unnütze Akten. »Dann haben Sie für dieses eine Mal mein Vertrauen.«
Eine Lüge.
Und sie wusste, dass es eine war. »Das freut mich.«
Er beherrschte das Spiel aus Lug und Trug meisterhaft. Sie ebenso. Noch waren sie Verbündete, doch für den Tag, an dem die Feindschaft begann, musste er sich rüsten. Wer immer du bist, ich werde hinter deinen Schleier blicken. Mit einem Lächeln griff er nach ihrem Glas und hielt es vor die Schwärze. »Sie trinken doch mit mir? Beim letzten Mal haben Sie es versprochen.«
Das Weinglas verschwand in der Schwärze und kehrte leer zurück. »Ich bin ein Mensch, kein magisches Wesen. Also ja, ich trinke und esse, wenn Sie sich das gefragt haben. Und nun entschuldigen Sie mich, Graf. Ich habe eine Menge zu tun.«
Im nächsten Augenblick verwehte das Nebelfeld. Sie war einfach fort. Kein Schattentor, kein Portal, keine ortbare Magie hatte gewirkt. Er hätte alles gegeben, um zu wissen, wie sie das anstellte. Und wer sie war.
Lächelnd trank der Graf von Saint Germain einen weiteren Schluck des Weines. »Ich finde heraus, wer du bist.«
10. Im Licht des Globus
Jen warf einen Blick auf die Uhr. Schon Mittag, wir sind viel zu langsam.
Kevin hatte einen der Suchgloben in den Turm geholt. Bisher blieb der Foliant unauffindbar. In der Zwischenzeit hatte sich Chris kurz gemeldet. Er war mit Alexander in New York auf Partytour.
»Mein Bruder und der Neue verstehen sich scheinbar glänzend«, hatte Kevin lachend gesagt.
Er saß mit Max, der sowieso jede freie Minute bei ihnen verbrachte, auf der Couch. Es ploppte, als sein Kaugummi platzte.
»Irgendwann klebe ich dir das Ding in die Ohren«, grummelte Kevin.
»Versuch’s doch.«
Clara ließ ihre Handflächen über den Globus gleiten. »Hm. Das ist eines der sensibelsten Artefakte. Wo immer diese Kuttenträger auch sind, auf ihnen liegt eine komplette Abschirmung.«
Jen ärgerte sich darüber, Johanna in deren Büro nicht angetroffen zu haben. Die Rätin schien wie vom Erdboden verschluckt. Leonardo geisterte irgendwo herum, doch er neigte zu weitschweifenden, philosophischen Antworten – ohne dabei eine echte Aussage zu treffen.
So viel zum Thema Universalgelehrter. Er sollte in die Politik gehen.
Die übrigen Ratsmitglieder waren überall auf der Welt unterwegs. Am liebsten wäre sie Chris und Alexander nach New York gefolgt, um zu tanzen, zu trinken und alles zu vergessen.
Ich bin es Mark schuldig, mich jetzt nicht gehen zu lassen. »Es muss einfach eine Möglichkeit …«
In diesem Moment flog die Eingangstür zum Turmzimmer auf. Leonardo trat ein, gefolgt von vier grimmig dreinblickenden Ordnungsmagiern. Sie waren speziell darauf geschult, die Regeln innerhalb der Lichtkämpfergemeinschaft aufrechtzuerhalten. Die Polizei. Freundlich wirkten sie nicht.
»Der Globus. Die Akten«, sagte das Ratsmitglied abgehackt.
»Was soll das?!«
Der Unsterbliche wartete, bis seine Entourage die Unterlagen von Marks alten Fällen und den Suchglobus weggebracht hatte. »Die Ermittlungen sind beendet.«
Kevin und Max sprangen synchron von der Couch auf. Clara funkelte Leonardo wütend an.