Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
er zu Boden, kam sanft zwischen Kies und Erde auf.
Ich bin ein Magier.
Er hob die Arme in die Luft. »Ich bin ein Magier!«
Gut, wenn das nun jemand hörte, hielt man ihn vermutlich für bekloppt. Und da es hier ziemlich viele gab, die plemplem waren, sich aber kein Psychiater jemals hierherverirrte, war er sicher.
Doch Alex war sich sicherer denn je. Er hatte seine Bestimmung gefunden. Was es auch mit Mark, den Kampfmönchen, der Schattenfrau und irgendwelchen Prophezeiungen auf sich haben mochte: Er würde das Rätsel lösen.
Komme, was wolle, seine magische Kraft gehörte ihm.
Und niemand würde sie ihm wieder wegnehmen.
Das war das wahre Leben, von dem er so lange ausgeschlossen gewesen war.
Fröhlich ein Lied pfeifend, hin und wieder einen Stein wegkickend, ging er nach Hause. Er war bereit.
21. Nur eine unter vielen
Jen ließ sich treiben.
Sie genoss das Gefühl, eingeschlossen von einer wogenden Masse aus Leibern durch die Straßen zu gehen. Es war Nacht in der City von New York.
Hätte jemand sie nach ihrem Hobby gefragt, die Antwort hätte ihn verblüfft. In Jens Zimmer im Castillo hing eine gewaltige Landkarte. Immer wenn sie sich einsam fühlte oder mit Problemen kämpfte, suchte sie über das Portalnetz eine Stadt auf. Dort wurde sie eins mit der Menschenmenge, ließ sich einfach treiben. Stundenlang glitt sie dahin, als eine von vielen. Eines Tages, das war ihr Ziel, wollte sie jede Stadt auf der Welt besucht haben.
Heute war es kein Neuland, das sie betrat. New York war eine altbekannte Freundin. Der Geruch, der von den kleinen Hotdog-Ständen ausging, das Parfüm der durchgestylten Partyjungs und -mädchen, das Hupen der omnipräsenten Taxis, all das war wie eine warme Umarmung, die ihr Geborgenheit spendete.
Natürlich war sie allein hierhergekommen.
Clara hatte sich unter einer scheinheiligen Entschuldigung zurückgezogen. Jen wusste längst, dass die Freundin eine Affäre mit Gryff, dem ersten Ordnungsmagier, am Laufen hatte. Doch die beiden wollten wohl das Feuer schüren, so lange es brannte, und verrieten es niemandem. Max und Kevin waren über ein Portal nach New Orleans gesprungen, um sich einen Jazz-Abend zu gönnen. Chris war vermutlich auch hier in New York oder London, vielleicht Berlin, möglicherweise Paris unterwegs. Er würde die Nacht keinesfalls alleine verbringen.
Jen wollte genau das.
So viel war geschehen, das ihr durch den Kopf geisterte.
Alexander Kent. Alex.
Er sah gut aus und wusste es. Ein kleiner Möchtegern-Macho, der unversehens an gewaltige Macht gekommen war. Sie würde auf ihn aufpassen müssen. Er wäre nicht der Erste, der Unfug anstellte. Vor seinen Freunden konnte er natürlich nicht angeben, die würden nur ein Fuchteln seiner Hände sehen. Dem Wall sei Dank. Trotzdem beunruhigte sie etwas. Die Jahre als Lichtkämpferin hatten Jen gelehrt, auf ihre Instinkte zu vertrauen. Was in den letzten Tagen geschehen war, wirkte … falsch. Anders gesagt: orchestriert. Ein unsichtbarer Puppenspieler stand im Hintergrund, wusste mehr als alle anderen und führte einen Plan aus.
Doch welchen?
Sie ließ ihren Blick über den Times Square schweifen. Leuchtreklame reihte sich an Leuchtreklame. Hier war alles bunt und hell, lebendig. Das Gegenteil von dem Ort, den sie einst ihr Zuhause genannt hatte.
Dort waren Stille, Einsamkeit und Tränen vorherrschend gewesen. Sie suchte die alte Villa und die Gräber höchstens ein-, zweimal im Jahr auf. Nun assoziierte sie mit den Steinen nicht nur das Ende ihrer Familie, nein, auch Mark würde immer damit verbunden bleiben.
Sie schüttelte den Kopf, vertrieb die trüben Gedanken. Dafür war keine Zeit. Zu viel geschah. Sowohl vor als auch hinter den Kulissen. Im Rat rumorte es. Es kam nur selten vor, dass alle Mitglieder herbeizitiert wurden. Gerade Einstein kam fast nie ins Castillo, meist verkroch er sich in seinem Labor.
Doch Jen hatte ihn gesehen, als er von den Katakomben heraufgestiegen war. Natürlich wusste sie von Clara und Max, dass der Einsatz des Erdbeben-Artefakts schiefgegangen war. Vermutlich hatte er es untersucht.
Sie blieb an einem Hotdog-Stand stehen, kaufte sich eine der ungesunden Kalorienbomben und biss herzhaft hinein. Während der Geschmack sich in ihrem Gaumen ausbreitete, ging sie weiter. Die Nacht war noch jung, die Straßen waren lang. Jen musste Ordnung in ihr Gedankenchaos bringen.
Vielleicht würde sie irgendwann, wenn ihre Gedanken zur Ruhe gekommen waren, in einer Disco haltmachen. Tanzen, sich bewegen, ein wenig vergessen. Sie vermisste Chloe. Deren Auftrag ging schon viel zu lang. Es wurde Zeit, dass die Freundin mit dem frechen Mundwerk zurückkehrte.
»Ich werde nachher einen für dich mittrinken.«
Um sie herum lachten Jugendliche, telefonierten, flirteten. Fast an jeder Hausecke machte jemand ein Selfie. Touristen vermengten sich mit Einheimischen in einer Atmosphäre der gemeinsamen Unbeschwertheit.
Jen sog diese Atmosphäre in sich auf.
So sollte es sein.
Sie warf ihre Haare zurück, lachte und ließ sich treiben. Das war Freiheit.
22. Dein Antlitz mein
Ein Wabern glitt über die Spiegelfläche, stabilisierte sich und formte eine Silhouette. »Die Ereignisse kommen in Bewegung«, sagte die Schattenfrau.
»Was soll ich tun?«, fragte der Wechselbalg.
Das Geschöpf stand in einem dunklen Raum, der einem Verließ ähnelte. Grob gehauene Steine zierten die Wände, Feuchtigkeit lag über allem. Hinter ihm, an der Mauer, lag ein Mensch. Mit schmiedeeisernen Ketten, magisch verstärkt, war er seiner Freiheit beraubt worden. Schnittwunden bedeckten seinen Körper. Die Kleidung bestand nur noch aus blutigen, dreckigen Fetzen. Ein Wunder, dass der Mensch überhaupt noch lebte. »Beobachte weiter.«
Der Wechselbalg erschauderte. »Die Räte haben einen Verdacht. Noch geht er in die falsche Richtung, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis sie die Suche ausweiten.«
»Und?« Sie lächelte. »Dein Antlitz ist das eines Lichtkämpfers. Du wirst respektiert, ja, geschätzt. Niemand vermutet in dir das, was du in Wahrheit bist.«
Der Wechselbalg nickte. Hinter ihm erklang ein Stöhnen. Er wandte sich um, trat neben den liegenden Menschen und schlug ihm die Faust gegen die Schläfen.
»Ich sehe, du hast deinen Spaß«, sagte die Schattenfrau.
»Oh ja.« Die Augen des Wechselbalgs leuchteten. »Ich bin mitten unter ihnen, doch sie merken es nicht. Die Offenbarung wird ihre Seele erschüttern. Der Tod des Originals umso mehr. Ich belege mich immer einige Stunden am Tag mit einem Vergessenszauber. Dann halte ich mich selbst für den Menschen, dessen Platz ich eingenommen habe. Sollte ihr Verdacht jemals auf mich fallen, kann nicht einmal ein Wahrheitszauber meine tatsächlichen Absichten enthüllen. Denn in diesem Moment glaube ich selbst, das Original zu sein und denke wie der Mensch.«
»Eine ausgezeichnete Idee. Da sie von mir stammt, ist das selbstverständlich. Achte darauf, dass er erst stirbt, sobald wir den Plan ausgeführt haben. Andernfalls würde das Aurafeuer dich verraten.«
»Ich benötige ihn sowieso noch. Aber nicht mehr lange.« Der Wechselbalg kicherte. »Wann darf ich zuschlagen?«
Die Schattenfrau lächelte. Erinnerungen stiegen in ihrem Geist empor. Dreimal wird der Schlüssel gedreht. Chaos, Feuer, Tod. »Bald. Du wirst ihnen das Feuer bringen.«
Wenn sie nur an ihre selbstgefälligen Visagen dachte, kroch Wut in ihr nach oben. Johanna, Leonardo, Einstein, Jennifer, Max, Kevin, Alexander, Christian … die gesamte Bagage. Die einzige Freude war die Tatsache, dass einer von ihnen mehr tot als lebendig in Sichtweite am Boden lag.