Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Sie hatten alle Angst.
Ihr wisst doch gar nicht, was Angst ist, dachte sie.
Während sie sich schminkten, betrat die Neue den Raum, die Jen bereits am Morgen aufgefallen war.
»Was tust du denn hier?«, fragte sie bewusst hochnäsig.
»Ich muss auf Toilette.«
»Hast du vielleicht um Erlaubnis gebeten, bevor du hereingestürmt bist«, warf Trish ein.
»Nennen wir sie doch ab jetzt Trampel«, schlug Jen kichernd vor. Sie wollte das andere Mädchen provozieren, aber die Neue reagierte nur mit noch mehr Schüchternheit.
»Also, Trampel, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, wollte Marjella wissen.
»Ich musste nur auf die Toilette.«
»Wie vulgär«, befand Jen.
»Ich gehe wieder. Tut mir leid«, sagte das schüchterne Mädchen.
Jen bedauerte es. Es war stets dasselbe. Macht und Stärke siegten. Niemand widersetzte sich, keiner stellte Fragen oder holte Hilfe. Sie hatte es auf die harte Tour lernen müssen. Ihr eigener Dad konnte tun, was immer er wollte.
Trish stellte sich vor die Tür, Marjella verhinderte, dass das Mädchen in eine der Toilettenkabinen fliehen konnte.
Es war jener Augenblick, in dem Jen zwei Dinge in absoluter Klarheit und aller Konsequenz begriff. Die schweigende Mehrheit ließ sich immer von einer starken Minderheit kontrollieren, wenn diese genug Angst schürte. Das konnte auch ein einzelner Mann sein. Und sie realisierte, dass Trish, Marjella und sie nicht besser waren als ihr eigener Dad.
Jen stylte sich in aller Ruhe zu Ende, obwohl es innerlich brodelte. Urplötzlich war es da, das Mitleid. Sie verließen den Raum. Mit jedem Schritt, den sie tat, reifte die Erkenntnis in ihr heran, dass sie von niemandem erwarten konnte, sich aufzulehnen, wenn sie es selbst nicht tat.
Was war schon ein blauer Fleck?
Ohne ein weiteres Wort ließ sie Trish und Marjella stehen, rannte zurück zur Toilette.
Dort nahm sie das Mädchen in den Arm.
Von diesem Augenblick an widersetzte sich Jen ihrem Vater, so oft sie nur konnte. Er behielt stets die Oberhand. Mit der Zeit begann sie, blaue Flecken als Auszeichnungen zu betrachten. Immerhin versuchte sie, Widerstand zu leisten, das war das Wichtigste.
Sie und Paula – so hieß die Neue – wurden beste Freundinnen. Trish und Marjella suchten sich eine andere, um ihr Trio Infernale zu ergänzen. Fortan war Jen ebenfalls eine Außenseiterin. Es störte sie nicht im Geringsten.
So ging ihr Leben weiter.
Bis zu jenem Tag, an dem sich alles änderte. Ein Sturm zog auf. Dunkle Wolken schoben sich über die Villa, Regen prasselte auf die Fenster, Blitze erhellten die Nacht.
Nie zuvor hatte er sich so sehr betrunken. Nicht nur Jens Mutter bekam Schläge ab, auch Jana. Doch dieses Mal ließ Jen es nicht zu, stellte sich ihm mit aller Kraft entgegen. Sogar den Schürhaken des Kamins setzte sie ein.
Er war trotzdem stärker.
Jen lag am Boden. Faustschläge und Tritte prasselten auf sie ein. Vermutlich hätte er sie an diesem Abend getötet. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen. Möglicherweise hätte das ihre Mum zur Besinnung gebracht, wäre sie mit Jana geflohen oder hätte ihn angezeigt.
Stattdessen geschah das, was niemand so recht begriff. Ein leuchtender Ball durchbrach die Wand, drang in ihren Körper ein und verschmolz mit ihrem Innersten. Als sie in höchster Not ihre Pein hinausschrie, materialisierte ein länglicher Stab in ihrer Hand.
Wut und Hass brachen sich Bahn.
Mit ihrem ersten Gedanken als erweckte Magierin entfesselte Jen das absolute Chaos. In einer gewaltigen Explosion zerbarst ihr Essenzstab, brachen Regen, Blitz und Donner über sie alle herein. In einem abrupten emotionalen Ausbruch tötete die Explosion ihren Vater, ihre Mutter und Jana.
Einzig Jen blieb zurück. Sie lag zwischen den Trümmern der Villa, wo Kevin und Chloe sie schließlich fanden.
Das Castillo wurde ihre neue Heimat, das Team ihre neue Familie. Es dauerte eine Weile, bis Jen die Ereignisse überwunden hatte, doch sie würden immer ein Teil von ihr bleiben.
Sie handelte in diesem Geiste und beschützte Nimags; um jeden Preis. Die Schatten ihrer Vergangenheit hatten sie geformt, wie sie jeden formten.
15. Memorum excitare III
»Ist das Jen?!«, rief Clara.
Entsetzt sah sie sich um. Sie standen inmitten einer Trümmerlandschaft. Über ihnen zogen dunkle Wolken über das Firmament. Blitze zuckten am Horizont zu Boden, Donner rollte durch die Nacht.
Die Freundin kauerte im Zentrum des Chaos, das einmal ein Haus gewesen sein musste. Die Decke war förmlich weggesprengt worden, ein Teil der Wand war eingestürzt. Das Feuer im Kamin brannte noch immer. Ein Großteil der Möbel lag unter Zementbrocken begraben.
»Das ist unmöglich«, flüsterte Chloe. »Leonardo war damals nicht dabei. Kevin und ich haben sie gefunden.«
Es polterte, Steine kullerten.
Leonardo stolperte herbei. Vorsichtig ging er neben Jen in die Knie. »Alles wird gut.«
Doch sie zuckte vor ihm zurück, kroch wimmernd in eine Ecke.
Der Unsterbliche bückte sich, nahm die Reste des Essenzstabes auf. »Niemand hat eine solche Kraft. Der Stab ist nur eine Verlängerung des Sigils. Wie konntest du das bewerkstelligen?«
Besorgt untersuchte er das Holz.
Ein weiteres Poltern erklang. Der Unsterbliche verschwand mit wenigen Schritten in den Schatten. Von seiner Position aus hatte er einen perfekten Überblick.
Erschrocken fuhr er zusammen, als er gegenüber, versteckt hinter einem Trümmerstück, die nebelige Silhouette der alten Feindin erblickte. »Woher wusste sie das?«, flüsterte er.
Es war eindeutig die Schattenfrau.
»Aber, das kann nicht sein«, entfuhr es Chloe. »Wir sind damals sofort aufgebrochen, nachdem der Onyxquader uns den Weg zu Jen gewiesen hatte. Sie hatte in einem plötzlichen emotionalen Ausbruch ihre gesamte Familie getötet.«
Clara starrte mit aufgerissenen Augen auf Jen und von dort zu Chloe. »Was? Das wusste ich nicht.«
»Niemand außer uns.«
Die Schattenfrau betrachtete eindeutig Jen. Ihre von Dunkelheit umhüllte Nasenspitze deutete zumindest in deren Richtung. Clara glaubte fast, dass die unbekannte Feindin ihre Fäuste ballte, doch das war vermutlich eine Täuschung. Das Nebelfeld verschluckte alles. Außerdem war es unlogisch. Warum sollte sie Jen hassen?
Es polterte.
Eine jüngere Version von Chloe stürmte in den Raum. Sie trug eine Lederjacke, die Haare waren rosa gefärbt. Dazu die typischen Boots, Lederjeans und ein ärmelloses Shirt. Sie hielt ihren Essenzstab erhoben, wie es Vorgabe war. Immerhin kam es nicht selten vor, dass auch Schattenkrieger auf eine Neuerweckung aufmerksam wurden und am Ort des Geschehens ankamen, bevor der Neuerweckte in Sicherheit gebracht werden konnte. »Daingead!«
Leonardos Kontaktstein hatte den gälischen Fluch Chloes in ein herzhaftes »Verdammt!« übersetzt, wodurch auch Clara ihn verstand.
Hinter ihr betrat Kevin das Trümmerfeld. Mittlerweile war der Boden so nass, dass er mit seinen Turnschuhen darauf ausrutschte. Fluchend kam er wieder in die Höhe, sah sich vorsichtig um. Das dunkelblonde Haar trug er etwas länger als heute. Die Jeans waren verschlissen, das Shirt lag eng an. »Was ist denn hier passiert? War sie das?«
»Scheinbar«, stellte die junge Chloe fest. »Das ist mal was Neues.«