Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
hat das zu bedeuten?«, fragte Alex. »Du weißt, wer die Schattenfrau ist?«
Der Unsterbliche schüttelte seufzend den Kopf. »Zu ihrer Identität kann ich dir nichts sagen. Doch es ist klar, dass sie in einem Lebensabschnitt die Geliebte eines Stabmachers war. Ihr müsst begreifen, dass es uns verboten ist, unser Wissen über die Herstellung von Essenzstäben weiterzugeben.« Er trank selbst einen Schluck der Flüssigkeit aus einer tongebrannten Tasse. »Einer meiner Vorgänger hat die Regel jedoch gebrochen. Er war in Liebe zu einer Frau entflammt. Erst als sie alle Geheimnisse der Stabkunst erlernt hatte, offenbarte sie ihr wahres Gesicht.«
»Das ist grausam«, flüsterte Jen. »Wenn der Mensch, den man am meisten liebt, jener ist, der einem das Messer in den Rücken rammt.«
Nostradamus nickte. »Das tat sie tatsächlich. Genauer: Sie rammte ihm seinen Essenzstab ins Herz.«
»Woah«, entfuhr es Alex, »was für eine widerliche Hexe.«
Der Unsterbliche hob mahnend die Hand. »Sie mag vom Bösen zerfressen sein, aber niemand wird so geboren. Die Schattenfrau trägt einen über Jahrhunderte gewachsenen Hass mit sich herum, doch worauf dieser gründet, weiß keiner.«
»Macht es das besser?«, fragte Jen.
»Gerade ihr beiden solltet nach dem heutigen Tag gelernt haben, dass tief gehendes Verständnis von elementarer Bedeutung ist. Entweder um zu heilen oder um zu besiegen.«
Eine bestechende Logik, wie sie zugeben musste. Trotzdem konnte sie kein Erbarmen oder gar Mitleid für die Schattenfrau empfinden. Was ihr auch passiert sein mochte, das sie auf diesen Pfad geschickt hatte – beinahe hätte das Weib Alex und sie getötet. Nie zuvor war Jen einem Aurafeuer so nahe gewesen.
»Ihr müsst dem Rat berichten, was ihr heute erfahren habt«, befahl Nostradamus. »Die Schattenfrau blieb zu lange unbehelligt. Sie muss gefunden werden. Johanna und Leonardo müssen alle Ressourcen darauf konzentrieren.«
»Keine Sorge.« Jen stellte ihre Tasse ab, die sie gedankenverloren festgehalten hatte. »Wir geben es sofort weiter. Aber was ist mit den Essenzstäben?«
Der Unsterbliche schüttelte den Kopf. »Einstweilen werde ich keine neuen mehr anfertigen können. Ein Contego Maxima zu erschaffen dauert viele Jahrzehnte und zehrt Kraft auf. Außerdem kann ich es nicht alleine. Die hier gelagerten Essenzstäbe sind die letzten.«
»Dann benötigst du einen besseren Schutz für das Refugium«, kam es von Alex.
Nostradamus nickte. »So ist es wohl.«
»Wir sollten ins Castillo zurückkehren«, beschloss Jen. »Was die Schattenfrau auch vorhat, es wird bald geschehen.«
Sie wollte sich erheben, doch der Unsterbliche kam herbeigeeilt und drückte sie kurzerhand wieder in das Sitzkissen. »Einen Augenblick noch. Da ist etwas, über das wir zuerst sprechen müssen.« Er setzte sich auf die Tischkante, gegenüber von Jen. »Als das Unum ablief, habe ich es gespürt. Du bist die Erbin Joshuas. In deinen Adern schlummert die Macht des letzten Sehers.«
»Das stimmt«, gab sie zu. Erst seit wenigen Tagen wusste Jen, dass sie der Sigillinie Joshuas entstammte. »Auch wenn es kaum etwas nutzt. Immerhin ist diese Fähigkeit wertlos, seit der Wall aktiv ist.«
Nostradamus schüttelte den Kopf. »Aber nein, das ist nicht korrekt. Zumindest nicht in deinem Fall. Du selbst besitzt keinerlei seherische Fähigkeiten, das stimmt, doch du kannst den Folianten lesen, den er einst schrieb.«
»Du weißt davon?«, entfuhr es Alex.
Der strafende Blick Nostradamus’ traf ihn. »Also wirklich. Ich bin der Essenzstabmacher und war einst selbst ein Seher, Neuerweckter.«
»Sorry.«
»Das ist sowieso egal«, warf Jen schnell ein. »Einmal kurz hat der Foliant die Prophezeiungen durch mich enthüllt. Aber seither kann ich nicht mehr darauf zugreifen.«
»In dem Folianten steht mehr als nur ein paar Sätze. Es ist das Lebenswerk Joshuas. Weissagungen, Informationen, ein Blick zurück, ein Blick nach vorne.«
»Unerreichbar.«
»Keineswegs, meine Liebe. Ich werde dir zeigen, wie du das Geschriebene lesbar machen kannst«, versprach Nostradamus. »Auf dass wir einen Vorteil gegenüber der Dunkelheit haben.« Seine Finger berührten sanft Jens Schläfen.
Im gleichen Augenblick verschwand die Umgebung, wurde abgelöst von dem Turmzimmer, in dem das Team untergebracht war. Wie ferngesteuert ging sie zu dem Folianten, öffnete ihn und legte ihre Hand mitten auf die erste Seite. Etwas in ihrem Innersten reagierte. Das uralte Papier erwärmte sich. Die Buchstaben pulsierten. Die Tinte kroch über Jens Haut. Symbole, Glyphen, Zeichen, all das wimmelte und wuselte auf ihrer Hand herum. Schließlich formten sie sich neu, kehrten zurück auf das Pergamentpapier.
Jen blickte hinab auf lesbare Schrift.
Das Turmzimmer verschwand.
»So kannst du es machen, wenn du wieder im Castillo bist. Es geht hier nicht um einen Zauber, ein Machtsymbol, Worte oder einen Spruch der Macht.«
»Nein«, flüsterte Jen, »das habe ich gespürt. Es ist wie Luftholen. Etwas Instinktives.«
Der Unsterbliche war zufrieden. »Exakt. Deshalb ist es beim ersten Mal auch so geschehen. Der Foliant hat dich als die Erbin erkannt und einen Kontakt hergestellt, den du zugelassen hast. Kehrt ins Castillo zurück, bringt das Werk in Sicherheit.«
Alex und Jen wechselten erstaunte Blicke.
»Ist es das etwa nicht?«, fragte er.
Nostradamus schüttelte betrübt den Kopf. »Die Schattenfrau war dabei, als ihr den Folianten geborgen habt. Sie will an die Informationen herankommen, die darin niedergeschrieben stehen.«
»Sie kommt nicht ins Castillo.« Jen schüttelte kategorisch den Kopf. »Bisher konnte niemand den Kristallschutz überwinden.«
Nostradamus hob in seiner typischen Geste mahnend die Hand. »Jeder Schutz hat ein Schlupfloch. Euch sollte mittlerweile klar sein, dass es einen Verräter im Castillo gibt. Wie sonst hätte die Schattenfrau erfahren sollen, dass ihr auf dem Weg hierher seid? Sie drang in das Refugium ein, griff mich an und bereitete alles darauf vor, dass ihr beiden kommt. Nicht irgendwer. Nicht irgendwann. Ihr beiden, heute.«
»Aber …«
Sie verstummte. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Woher die Schattenfrau gewusst hatte, dass Jen auf dem Weg zum Folianten war. Die Manipulation des Erdbebenartefaktes. Jedes Mal war sie ihnen einen Schritt voraus gewesen, keiner hatte gewusst, warum.
Doch wer fiel ihnen in den Rücken?
»Die Geschichte wiederholt sich stets, vergeht nur ausreichend Zeit«, sagte Nostradamus. »Wir haben genug geplaudert. Die Entscheidung zieht mit großen Schritten heran. Benutzt das Portal, kehrt in das Castillo zurück.«
Alex und Jen sprangen gleichzeitig auf. Gemeinsam hetzten sie aus dem Raum, durch Gänge und Treppenstufen hinab, zurück zum Sprungportal.
20. Tu es!
Die Schattenfrau materialisierte in ihrem Domizil. Die Glasphiole mit dem Contego Maxima wurde warm auf ihrer Haut, wand sich, wollte fort. Sie verstaute das Gefäß, dann atmete sie durch.
Es war ihr schwergefallen, die beiden nicht zu töten. So lange hatte sie auf den Moment ihrer Rache gewartet, und gerade jetzt, wo sich alles dem Ende zuneigte, wurde sie ungeduldig. Das war eine Schwäche, die sie niemals wieder zulassen durfte. Perfekte Planung, exakte Ausführung und dann: Macht, Zerstörung, Chaos.
Rache!
Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Sie hatte so viele Leben gelebt, dass sie nicht einmal mehr wusste, ob die Unsterblichkeit ein Segen oder ein Fluch war. Vermutlich beides. Zuerst hatte sie es verdammt,