Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
sie aufzuspüren, ihre Identität zu enthüllen und sie in den Immortalis-Kerker zu werfen. Nicht, dass sie eine Chance auf Erfolg hatten, aber sie würden auf Spuren stoßen, das war ein Fakt.
»Es ist an der Zeit«, murmelte sie. Der Gedanke löste ein Gefühl der Beklemmung in ihr aus. Der Befehl war nur folgerichtig, doch danach gab es kein Zurück mehr. Niemals.
Sie trat an den Spiegel.
Er war größer als sie selbst und breit. Der Rahmen bestand aus eisengeschmiedeten Glyphen. Sie berührte eine davon, die sofort aufglomm.
Nun musste sie warten.
Wo im Castillo der Wechselbalg auch war, er spürte ihren Ruf. Doch Sicherheit ging vor. Er musste sich zurückziehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Dann den geheimen Raum betreten, von dem kein Lichtkämpfer etwas ahnte. Das würde sich bald ändern.
Endlich kräuselte sich die Spiegelfläche.
Ihr eigenes verhülltes Antlitz wurde nicht länger zurückgeworfen. Stattdessen starrte ihr einer ihrer Feinde entgegen. Natürlich konnte er jeden von ihnen imitieren, doch einstweilen hielt er diese eine Form aufrecht, kopierte nur diese Person.
Sie lag direkt hinter ihm, in dem kleinen Raum. Schmiedeeiserne Ketten hielten sie an der Wand. Die Kleidung bestand nur noch aus Lumpen, das Haar hing fettig und zottig herab. Blutkrusten bedeckten die sichtbaren Stellen der Haut, wo der Wechselbalg sich bedient hatte.
»Berichte mir«, forderte sie.
Die Kreatur kicherte. »Sie werden immer paranoider. Angst geht um. Sie hegen den Verdacht, dass es einen Verräter gibt.«
Das deckte sich mit dem, was sie bereits wusste. Sie nickte fragend in die Richtung des Bündels im Hintergrund.
»Zwischen Leben und Tod. Eher Letzteres.« Wieder ein Kichern.
Es gab zwei Gründe, weshalb der Lichtkämpfer unbedingt am Leben bleiben musste. Zum einen würde sein Tod das Aurafeuer auslösen und damit alles verraten. Zum anderen benötigte der Wechselbalg immer wieder ein wenig Blut von ihm, um nicht nur die äußere Hülle zu imitieren, sondern auch das Wesen und die Erinnerungen.
Einzig die ältesten dieser Kreaturen konnten tatsächlich eine so vollständige Kopie aus sich selbst heraus erschaffen, dass sie Phasen einleiten konnten, in denen sie selbst glaubten, die kopierte Person zu sein. Nicht einmal ein Wahrheitszauber vermochte es dann, die falsche Identität zu enthüllen. Perfekt für eine Infiltration.
»Ich hatte soeben eine kleine Konfrontation mit Jennifer und Alexander. Die Jagd beginnt nun erst richtig. Sowohl auf mich als auch auf den Verräter, also dich.«
»Verstanden.«
»Es wird Zeit, dass du ein wenig Chaos auslöst. Für die nächste Phase müssen sie abgelenkt sein«, erklärte die Schattenfrau. »Sie sollen unter Verfolgungswahn leiden, sich gegenseitig verdächtigen, eine Hexenjagd beginnen. Doch sei vorsichtig, sie dürfen auf keinen Fall zu früh erkennen, wer du bist.«
Der Wechselbalg nickte eifrig. Seine menschliche Haut nahm einen ledrig-grauen Ton an, hier und da verlor er die Form. »Es ist alles vorbereitet.« Er verschwand aus dem Zentrum des Spiegels, kehrte mit einem gebogenen Dolch zurück. »Es ist mir gelungen«, verkündete er stolz.
Sie betrachtete die Sigilklinge. Nach dem Kampf gegen Huan und den Bund des Sehenden Auges war das zerstörerische Artefakt in die verbotenen Katakomben gebracht worden. Von dort hatte der Wechselbalg sie geholt. Wurde ein Magier mit einer solchen Klinge getötet, konnte das Sigil nicht mehr neu entstehen. Es wurde zu reiner Energie und verging, kein Erbe entstand.
Das bedeutete natürlich auch, dass – um das ewige Gleichgewicht zu erhalten – einer der Schattenkrieger starb. Ihr persönlich war das völlig egal. Der Graf von Saint Germain und seine vertrottelten Helfer würden aber zweifellos ausrasten. Allen voran Dschingis Khan, der so leicht in Rage zu versetzen war. Sie würde das Ganze einfach dem Bund in die Schuhe schieben, worauf der Unsterbliche einen gnadenlosen Rachefeldzug beginnen würde. Es war so simpel.
»Ausgezeichnet.« Dann sprach sie die Worte, die alles verändern würden. Kein Zurück mehr, kein Warten. Alles oder nichts. »Tu es! Töte einen der Lichtkämpfer.«
21. Wer ist der Verräter?
»Er hat euch einfach gehen lassen?«, fragte Max ungläubig. Sein Blick huschte von Clara zu Chloe und wieder zurück. »Keine Strafe? Ihr müsst nicht mal die Vorlesung von Ingenieursmagie besuchen?«
»Das muss dafür ich«, warf Chris frostig ein. »Weil er genervt war. So viel zu einem Ablenkungsmanöver.«
Sie waren im Turmzimmer zusammengekommen, nachdem Leonardo die beiden Frauen zuerst mehrere Minuten lang angebrüllt und anschließend aus seinem Büro geworfen hatte.
Max saß im Schneidersitz neben Kevin und kaute gedankenverloren auf seinem Kaugummi herum. »Ich habe ihn immer für ein wenig ruppig gehalten, aber scheinbar ist er ja ganz nett.«
»Haha. Du bist ein ewiger Optimist.« Chloe kam doch tatsächlich zu ihm, kniff ihn in seine Wange und kehrte zurück zu ihrem Platz, dem Schreibtisch, auf dessen Kante sie sich niederließ. »Aber ernsthaft, er war verdammt sauer. Wir konnten gerade noch sagen … Verräter … Suche … Angst.«
Clara saß im Sessel, kaute auf ihrer Unterlippe und wirkte, als habe sie soeben ein Todesurteil erhalten. »Ich war immer die Beste. In den Vorlesungen. In Recherche. Im Kampf. Aber jetzt habe ich gegen Regeln verstoßen.«
»Oh, oh, unsere Streberin ist in Ungnade gefallen«, foppte Kevin. »Mach dir nix daraus, passiert jedem mal. Nun wissen wir immerhin, dass es tatsächlich einen Verräter gibt und der Rat an dem Tag, an dem diese Zusammenkunft stattfand, noch nicht viel weiter war.«
»Und«, warf Chloe ein, »wir wissen, dass Gryff ermittelt. Möglicherweise hat er inzwischen etwas herausgefunden. Wenn wir nur eine Möglichkeit hätten, an diese Information zu gelangen.«
Seltsamerweise überzog ein zarter Rotton Claras Wangen, als Chloe von Gryff sprach.
Ne, echt jetzt? Max schaute fragend zu Kevin, der jedoch nur verständnislos dreinblickte. Natürlich bekam er wieder gar nichts mit. Typisch.
»Es ist also jemand vom Rat.« Chris befand sich in der Horizontalen, hatte wie immer sein Shirt abgelegt und machte Liegestütze.
Wenn es nach Max ginge, hätte er das durchaus öfter machen können. Dass er mit einem der beiden Zwillingsbrüder zusammen war, hieß ja nicht, dass er dem anderen nicht bei seinem beeindruckenden Muskelspiel zuschauen durfte. Chloe machte es genauso.
Ihre Blicke trafen sich. Sie grinsten einander an.
Prompt traf ihn ein Rippenstoß von Kev. »Hörst du wohl auf, meinen Bruder anzustarren.«
»Wer, meint ihr, ist es?«, fragte Clara und lenkte die Diskussion wieder zurück auf das eigentliche Thema. »So viele Möglichkeiten gibt es ja nicht.«
»Tomoe hat sich sehr gegen eine Untersuchung mit Wahrheitszauber gesträubt«, überlegte Max.
»Das hätte ich auch.« Chloe verzog abschätzig die Lippen. »Ist doch widerlich, so ausgelesen zu werden. Aber ich kann mir das bei ihr nicht so richtig vorstellen. Und warum sollte sie das tun? Sie lebt dafür, das Vermögen der Lichtkämpfer zu vermehren, und darin ist sie verdammt gut.«
»Hoffentlich ist sie nicht der Verräter«, seufzte Max. »Stellt euch vor, unser Geld ist plötzlich weg.«
»Du Materialist«, lachte Kevin.
»Leonardo«, verkündete Chris. »Bestimmt ist er es. Das würde auch erklären, warum er mich vom aktiven Dienst …«
Alle anderen stöhnten synchron auf.
»Jetzt hör doch mal auf damit«, schimpfte Kev. »Werd einfach wieder gesund. Dann kannst du durch