Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
»Hätte er das Artefakt dann aber eingesetzt?«, gab Chloe zu bedenken.
»Um von sich abzulenken«, warf Clara ein. »Eine perfekte Taktik. Niemand vermutet ihn hinter der Manipulation, weil er es aktiviert hat.«
»Möglich«, gab Chris zu. Er setzte sich auf. Schweiß rann über seinen Oberkörper. »Oder Johanna selbst. Sie war auch dabei.«
»Shit«, fluchte Clara.
Alle starrten zu ihr hinüber.
»Was?«, fragte Chloe.
»Wir waren auch dabei.« Sie deutete auf Max und dann auf sich selbst.
»Stimmt«, erwiderte er. »Und?
»Verstehst du denn nicht, wir waren dabei!«
»Öhm. Du kannst das jetzt auch noch dreimal sagen, das hilft mir nicht weiter.«
»Ha!«, rief Kevin aus. »Ihr beiden seid die Verräter.«
»Das ist nicht lustig«, gab Clara zurück. »Nein, ich meinte etwas anderes. Der Rat ist sicher, dass der Verräter einer der Unsterblichen ist.«
»Genau«, bestätigte Max. »Weil nur die die verbotenen Katakomben betreten kö… – oh, shit.«
Chloe schlug sich mit einem patschenden Geräusch gegen die Stirn. »Es muss gar nicht unbedingt eines der Ratsmitglieder sein. Johanna besitzt diese weißen Steine, mit denen man die Katakomben betreten kann. Sie halten den Alterungszauber ab. Falls der Verräter einen davon besitzt, könnte er jederzeit dorthin vordringen. Das bedeutet …«
»… es könnte jeder sein«, beendete Kevin den Satz. »Verdammt! Daran habe ich gar nicht gedacht. Wissen wir etwas über diese Steine?«
»Zwei kleine Klumpen waren noch übrig. Aber das hat in der Hektik niemand bemerkt. Ich habe sie in meiner Schatulle verstaut.«
Sie rannte aus dem Raum und kehrte kurz darauf damit zurück. »Hier. Mehrfachschutzzauber.« Sie öffnete den Deckel.
Gemeinsam starrten sie auf den mit Samt ausgelegten Boden.
»Liegt da ein Unsichtbarkeitszauber drauf oder sind sie weg?«, fragte Max.
»Oh nein.« Claras Gesicht war kreidebleich. »Das kann nicht sein. Niemand kann den Zauber lösen. Das ist völlig unmöglich.«
»Scheinbar nicht«, kam es von Kevin. Tröstend legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, aber damit ist der Verräter gerade um eine Größenordnung gefährlicher geworden. Wir müssen den Rat informieren. Und Gryff.«
Clara schloss müde die Augen. Max hätte sie am liebsten in den Arm genommen und gedrückt.
»Okay«, verkündete sie. »Ich übernehme Gryff. Kann einer von euch sich um den Rat kümmern?«
Chris machte einen Satz zurück. »Keine Chance.«
»Von mir aus«, erklärte Kevin. »Ich erledige das. Aber zuerst bekommen Jen und Alex ein kleines Update.« Er griff nach seinem Kontaktstein. »Seltsam.«
»Immer noch nicht erreichbar?«, fragte Chloe.
Er schüttelte den Kopf. »Irgendwie ist das nicht unser Tag. Was machen die denn so lange? Ist das normal?«
»Hm.« Chloe sprang vom Schreibtisch auf den Boden. »Bei Jen hat es nicht so lange gedauert, aber ich habe keine Ahnung, was da gemacht wird. Lassen wir die beiden und kümmern uns um unsere Probleme. Sie werden früh genug davon erfahren.«
»Na schön«, sagte Kev. »Clara, du gehst zu Gryff. Ich suche Johanna. Die ist hoffentlich besser drauf als Leonardo. Vermutlich ist sie es danach nicht mehr.«
Vor dem Castillo färbte sich der Horizont blutrot, die Sonne versank.
»Ich besorge Kaffee, Energydrinks und Cola«, verkündete Chloe. »Das wird ’ne lange Nacht.«
Max blieb einfach sitzen und beobachtete das Wuseln ringsum. In Gedanken beschäftigte ihn nur eine Frage: Wer war der Verräter?
22. Ich hasse Portale
Alex’ Kopf schwirrte.
Gemeinsam mit Jen hastete er durch Nostradamus’ Refugium, dem Portal entgegen. »Ich wusste nicht, dass wir einen so weiten Weg zurückgelegt haben.«
»Raum ist relativ.« Sie räusperte sich. »Verdammt, warum sind wir nicht früher darauf gekommen, dass es einen Verräter gibt?«
»Na ja, so was ist wohl kaum normal.«
»Eigentlich gibt es das ständig«, widersprach sie. »In Firmen oder der Politik fallen sich Verbündete immer wieder in den Rücken.«
»Jaaa«, gab er zu. »Aber doch nicht bei einer so großen Sache. Man ist gut oder böse.«
Sie stiegen Steinstufen hinab.
»Du wirst bald feststellen, dass einfaches Schwarz-Weiß-Denken dich nicht weiterbringt. Es mag oft klar und deutlich erscheinen, ist in Wahrheit aber vielschichtig und kompliziert. Das durften wir beide heute ja erleben.«
Ein Knoten bildete sich in seinem Magen. Der Gedanke, dass jemand miterlebte, was er damals getan hatte, war schrecklich. Der Hass und die Wut, geboren aus so vielen Jahren des Überlebenskampfes in der Gosse, hinterließen ihre Spuren.
Umgekehrt erging es Jen wohl nicht besser. Sie war geschlagen worden, hatte Leid verursacht und schließlich sogar Tod. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, durch welche innere Hölle sie gegangen war.
Vor einigen Jahren, als er Abends durch die Stadt gejoggt war, war er einem alten Mann begegnet. Dieser hatte aus der Ferne beobachtet, wie ein paar Jugendliche einen anderen aufgrund seiner Hautfarbe zusammenschlugen. Da in diesem Augenblick die Bobbys aufgetaucht waren, hatte Alex nicht eingreifen müssen. Eine solche Szene war traurigerweise nicht unüblich. Der alte Mann sah ihn traurig an und sagte: »Wir stehen vor dem Fenster, blicken hinaus und sehen da diesen Anderen. Er ist nur auf seinen Vorteil bedacht, denkt in Schubladen und hegt Vorurteile gegen alles und jedem. Wir bilden unsere Meinung über ihn und verurteilen ihn innerhalb von Sekunden, halten ihn für arrogant, oberflächlich und vieles mehr.« Er lächelte traurig. »Und dann bemerken wir, dass es kein Fenster ist, sondern ein Spiegel.« Ohne ein weiteres Wort ging er davon.
Damals hatte Alex nicht begriffen, was der Alte ihm hatte sagen wollen. Heute verstand er es.
Sein Blick erfasste Jen. »Wie hast du das nur überlebt?«, flüsterte er. Zu spät wurde ihm klar, dass er die Frage laut ausgesprochen hatte.
Jen wusste sofort, was er meinte. »Nun ja, das Castillo hat einen guten Psychologen.«
»Was?«
»Das heißt, ›wie bitte‹«, korrigierte sie ihn frech schmunzelnd. »Aber ernsthaft: Wir erleben im tagtäglichen Kampf furchtbare Dinge. Da benötigt man ab und zu Hilfe.«
»Oh, warte«, er hob die Hand, »lass mich raten: Doktor Sigmund Freud persönlich?«
Lachfalten umrahmten Jens Augen, als sie kicherte. »Nein, da liegst du falsch. Lass dich überraschen. Bestimmt bist du auch früher oder später fällig. Seine Heilmethode ist auf jeden Fall etwas Besonderes.«
Sie steuerten auf den Raum mit dem Portal zu.
»Wer, glaubst du, ist der Verräter?«, fragte Alex.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Jen. »Das Problem ist, dass ein guter Verräter eben als Freund durchgeht. Weißt du, nach dem großen Kampf vor einhundertsechsundsechzig Jahren lag das halbe Castillo in Trümmern. Sogar bis in das Archiv waren sie vorgedrungen, die Schattenkämpfer. Die Archivarin hat die Räume separiert, doch zwei wurden fast vollständig zerstört.«
»Klingt übel.«