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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust


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mittelmäßig sein, zurückgestrahlt wird. Denn das Genie liegt in der Macht zu reflektieren, nicht in der eigenen inneren Qualität des gespiegelten Schauspiels. Von dem Tage ab, an dem der junge Bergotte seiner Leserwelt den Salon von schlechtem Geschmack, in dem er seine Jugend verbracht hatte, und die nicht besonders witzigen Unterhaltungen daselbst mit seinen Brüdern darstellen konnte –, an diesem Tage stieg er höher als die geistvolleren und distinguierteren Freunde seiner Familie; die mochten auf dem Heimweg in ihren schönen Rolls-Royce sich verächtlich äußern über die Gewöhnlichkeit der Bergotte; er aber in seinem bescheidenen Apparat, der endlich ›losging‹, überflog sie.

      Nicht mehr mit den Mitgliedern seiner Familie, sondern mit gewissen Schriftstellern seiner Zeit waren ihm andere Eigenheiten seiner Ausdrucksweise gemein. Diese zeigten sich deutlich, ohne daß sie es wußten, bei jüngeren, die schon anfingen, ihn zu verleugnen, und behaupteten, keinerlei geistige Verwandtschaft mit ihm zu haben; sie wandten dieselben Adverbien, dieselben Präpositionen an, die er beständig wiederholte, bauten ihre Sätze auf seine Art und sprachen in seinem dämpfenden, retardierenden Tonfall: eine Reaktion gegen die beredte, leichte Sprache einer vorangehenden Generation. Vielleicht hatten diese jungen Leute – man wird einige kennen lernen, denen es so erging – Bergotte nicht gekannt: aber seine Art zu denken war ihnen eingeimpft und hatte in ihnen die Veränderungen der Syntax und des Akzentes entwickelt, die in notwendigem Zusammenhang mit der geistigen Originalität stehen, einem Zusammenhang, der an anderer Stelle wird erklärt werden müssen. So hatte auch Bergotte, der seine Art zu schreiben niemandem verdankte, seine Art zu sprechen von einem seiner alten Kameraden, einem wunderbaren Causeur, dessen Einfluß Bergotte erfahren hatte und den er unbewußt in der Unterhaltung nachahmte, der aber selbst, weniger begabt, nie ein wahrhaft bedeutendes Buch geschrieben hatte. Hielte man sich also an die Originalität der Sprechweise, so würde Bergotte als Schüler abgestempelt, als Schriftsteller aus zweiter Hand, während er doch trotz des Einflusses seines Freundes auf seine Konversation, als Schriftsteller original und schöpferisch war. Was Bergotte, wenn er ein Buch loben wollte, hervorhob und gern zitierte, war immer eine bildhafte Szene ohne Vernunftbedeutung – und damit wollte er sich gewiß scharf von der vorhergegangenen Generation unterscheiden, die zu sehr die Abstraktionen, die großen Gemeinplätze geliebt hatte. »Ach«, sagte er dann. »Das ist gut! Da gibt es ein kleines Mädchen in einem orangenen Schal, ach, das ist gut!«, oder etwa: »Ja, da ist eine Stelle, wo ein Regiment durch die Stadt zieht, ach, das ist gut!« In Stilfragen ging er nicht ganz mit seiner Zeit mit (und beschränkte sich übrigens sehr ausschließlich auf das eigene Land; Tolstoi, Georges Elliot, Ibsen und Dostojewski konnte er nicht leiden); das Wort, das immer wiederkehrte, wenn er einen Stil loben wollte, war das Wort ›süß‹. »Ja, ich liebe trotz allem den Châteaubriand von Atala mehr als den von René, mir scheint, er ist süßer.« Er sagte dies Wort wie ein Arzt, dem ein Kranker versichert, daß die Milch ihm Magenweh mache, und der antwortet: »Sie ist doch aber ganz süß.« Und tatsächlich war im Stile Bergottes etwas von der Harmonie, für die die Alten bestimmten Rednern ein Lob erteilten, dessen Natur uns schwerfaßlich ist, da wir nun einmal an unsere modernen Sprachen gewöhnt sind, in denen man auf derartige Wirkungen nicht ausgeht.

      Er sagte auch mit schüchternem Lächeln von Seiten seiner Bücher, über die man ihm Bewunderung ausgesprochen hatte: »Ich glaube, es ist ziemlich wahr, ziemlich genau, es kann nützlich sein«, doch einfach nur aus Bescheidenheit, wie eine Frau, der man sagt, daß ihr Kleid oder ihre Tochter entzückend sei, in bezug auf das erste antwortet: »Es ist bequem«, in bezug auf die zweite: »Sie hat einen guten Charakter.« Aber der baumeisterliche Instinkt war zu tief in Bergotte: es entging ihm nicht, daß der einzige Beweis, er habe nützlich und nach der Wahrheit gebaut, in der Freude lag, die ihm sein Werk gegeben hatte, ihm zuerst, und den andern nachher. Nur viele Jahre später, als er kein Talent mehr hatte, änderte sich das: so oft er dann etwas schrieb, womit er nicht zufrieden war, wiederholte er sich selbst, um nicht bei der Veröffentlichung des Werkes die Stelle weglassen zu müssen: »Immerhin, es ist ziemlich genau, es ist nicht ohne Nutzen für mein Land.« Was er einst in listiger Bescheidenheit vor seinen Bewunderern gemurmelt hatte, das flüsterte ihm schließlich im heimlichen Herzen sein beunruhigter Ehrgeiz zu. Die Worte, die Bergotte als oberflächliche Entschuldigung für den Wert seiner ersten Werke gedient hatten, wurden ihm jetzt ein unwirksamer Trost für die Mittelmäßigkeit seiner letzten.

      Eine ausgesprochene Strenge des Geschmackes, der Wille, nie etwas zu schreiben, wovon er nicht sagen könne: »Es ist süß«, hatten ihn viele Jahre hindurch für einen sterilen, affektierten Künstler, der an Nichtigkeiten feilt, gelten lassen, aber gerade sie waren das Geheimnis seiner Stärke. Gewohnheit bildet ebenso den Stil des Schriftstellers wie den Charakter des Menschen, und der Autor, der sich mehrere Male begnügt hat, im Ausdruck seines Gedankens eine gewisse Anmut zu erreichen, setzt damit für immer die Grenzen seines Talentes. So gibt man oft dem Vergnügen, der Trägheit, der Furcht vor dem Leiden nach und zeichnet in einen Charakter, bei dem eine Retusche schließlich nicht mehr möglich ist, die Form der eignen Laster und die Enge der eignen Tugend ein.

      So habe ich wohl in der Folge viele Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Schriftsteller Bergotte wahrgenommen. Wenn ich aber trotzdem im ersten Augenblick bei Frau Swann nicht geglaubt habe, daß es wirklich Bergotte sei, der Verfasser so vieler göttlicher Bücher, der sich da vor mir befand, hatte ich vielleicht nicht absolut unrecht, denn er selbst (im wahren Sinne des Wortes) »glaubte« es ebensowenig, er glaubte es nicht, denn er bemühte sich eifrig um die Leute der Gesellschaft (ohne im übrigen ein Snob zu sein) und um die Schriftsteller und Journalisten, die tief unter ihm standen. Wohl hatte er jetzt durch den Schiedsspruch der andern erfahren, daß er Genie habe, woneben die gesellschaftliche Stellung und die offiziellen Posten nichts sind. Er hatte erfahren, daß er Genie habe, aber er glaubte es nicht, denn er fuhr fort, mittelmäßigen Schriftstellern gegenüber Ehrerbietung zu heucheln, um demnächst in die Akademie zu kommen, obwohl doch die Akademie oder das Faubourg Saint-Germain mit dem Teil des ewigen Geistes, der Bergottes Bücher geschaffen hat, ebensowenig zu tun haben wie mit dem Prinzip der Kausalität oder der Idee Gottes. Das wußte er auch, wie ein Kleptomane, ohne daß es ihm hilft, weiß, daß das Stehlen vom Übel ist. Der Mann mit dem Knebelbart und der Schneckenhausnase hatte die Listen eines Gentleman, der silberne Löffel stiehlt, um sich zwecks Erlangung des erhofften Sessels in der Akademie der oder jener Herzogin, die über mehrere Stimmen verfügte, zu nähern und dabei niemanden, der in der Verfolgung eines solchen Zieles ein Laster sah, etwas von seinem Manöver merken zu lassen. Es glückte ihm nur halb. Man merkte, wie die Worte des wahren Bergotte mit denen des selbstsüchtigen, ehrgeizigen Bergotte abwechselten, der immer nur bedacht war, von mächtigen, vornehmen und reichen Leuten zu sprechen, um sich zur Geltung zu bringen, er, der doch in seinen Büchern, als er noch wirklich er selbst war, den quellenreinen Zauber der Armut gezeigt hatte.

       Wenn nun aber die andern Laster, auf die Herr von Norpois anspielte, die blutschänderische Liebe, die angeblich noch mit Unzartheit in Geldangelegenheiten verquickt war, in verletzender Weise der Tendenz seiner letzten Romane widersprachen (in diesen herrschte so gewissenhafte und schmerzliche Besorgtheit um das Gute, daß davon die geringsten Genüsse der Helden vergiftet wurden und es den Leser in eine Beklemmung trieb, in der das mildeste Dasein schwer zu ertragen schien) –, so bewiesen diese Laster, auch wenn man sie Bergotte mit Recht zutraute, nicht, daß seine Literatur verlogen und soviel Feinfühligkeit nur Komödie sei. Wie in der Pathologie gewisse Zustände mit gleichen Erscheinungsformen, die einen von einer übermäßigen, die andern von einer ungenügenden Spannung oder Absonderung herrühren, so mag es auch Laster aus Überempfindlichkeit und Laster aus Mangel an Empfindlichkeit geben. Vielleicht kann nur vor einem wirklich lasterhaften Leben das moralische Problem in seiner ganzen beängstigenden Stärke aufgeworfen werden. Und diesem Problem gibt der Künstler nicht auf der Ebene seines individuellen Lebens, sondern da, wo für ihn sein wahres Leben ist, eine allgemeine, literarische Lösung. Wie die großen Doktoren der Kirche oft, in all ihrer Güte, ihr Werk damit anfingen, die Sünden aller Menschen kennen zu lernen, und daraus ihre persönliche Heiligkeit gewannen, so bedienen sich oft die großen Künstler, in all ihrer Schlechtigkeit, der eigenen Laster, um zur Schöpfung einer moralischen Regel für alle zu kommen. Die Laster (oder auch nur Schwächen und Lächerlichkeiten) des eigenen Lebenskreises, die leichtfertigen Reden, das frivole und anstößige Leben der eignen Tochter, die Treulosigkeit ihrer Frau oder ihre persönlichen Verfehlungen


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