Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
zerstreuten Blick, dann aber nahm er sich zusammen und reichte ihm die Hand.
»Hallo, Matt, Alter! Meine Gedanken waren tausend Meilen weit von hier, als Sie kamen. Nehmen Sie sich einen Stuhl und machen Sie es sich bequem. Dort neben Ihnen steht Tabak. Versuchen Sie ihn und lassen Sie uns hören, was Sie wollen.«
»Ja, da hat er schon recht, dass seine Gedanken tausend Meilen weit von hier sind«, sagte Matt bei sich. Aber laut sagte er: »Nun ja, Sie waren wohl in süße Träume versunken. Und das ist ja auch kein Wunder.«
»Wieso?« fragte der Korrespondent heiter.
»Sie sind ein verfluchter Kerl, Vincent, und haben ein mächtiges Glück bei den Mädchen – darüber ist nicht zu streiten. Sie haben manchen Kuss im Vorbeigehen geschnappt und manches Herz gebrochen. Aber Vincent, mein Junge, haben Sie je das Richtige gekannt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Das Richtige, das Richtige, das heißt – nun ja, sind Sie je Vater gewesen?«
St. Vincent schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Aber haben Sie je väterliche Liebe gefühlt?«
»Das weiß ich nicht recht. Ich glaube nicht.«
»Da haben wir’s ja. Und das ist das Richtige, sag’ ich Ihnen. Wenn ein Mann je ein Kind gesäugt hat, dann habe ich’s getan, oder doch jedenfalls so was Ähnliches. Es war ein Mädel, und jetzt ist sie ausgewachsen, und wenn möglich liebe ich sie noch mehr als ihr leiblicher Vater. Außer ihr habe ich leider nur eine einzige Frau getroffen, die ich hätte lieben können, und die war schon mit einem anderen verheiratet, als ich sie traf. Ich habe keinem Menschen je ein Wort davon gesagt, o nein, nicht einmal ihr selbst. Aber sie ist tot. Gott sei ihrer Seele gnädig.«
Das Kinn sank ihm auf die Brust, und seine Gedanken gingen zurück zu der blonden Frau, die sich einst wie ein Sonnenstrahl in die Hütte am Dyea-River verirrt hatte. Er blickte plötzlich auf und sah St. Vincent mit leeren Blicken vor sich hinstarren, als dächte er an ganz etwas anderes.
»Aber lassen Sie es jetzt genug sein mit den Dummheiten, Vincent.«
Der Korrespondent nahm sich zusammen, und er merkte, dass die kleinen blauen Augen des Iren sich in die seinen bohrten.
»Sind Sie ein tapferer Mann, Vincent?«
Eine Sekunde lang sahen sie sich an, als wollte einer die Seele des anderen erforschen. Und in dieser Sekunde hätte Matt schwören können, dass er es ganz leise in den Augen des anderen flackern sah. Triumphierend schlug er mit der Faust auf den Tisch, dass es klatschte. »Weiß Gott, das sind Sie nicht.«
Der Korrespondent zog die Tabakdose zu sich heran und drehte sich eine Zigarette. Er drehte sie sich mit großer Sorgfalt, und das feine Reispapier knisterte in seiner geübten Hand; dabei stieg ihm das rote Blut unter dem Hemdkragen empor und verbreitete sich, stärker an den Höhlungen und wieder schwächer an den Backenknochen, immer mehr über seine Wangen, bis sein Gesicht flammte.
»Das ist gut! Und vielleicht erübrigt sich dadurch, dass ich meine Finger mit einer ekelhaften Arbeit beschmutze. Vincent, das Mädel, das jetzt ausgewachsen ist, schläft diese Nacht in Dawson. Gott helfe uns, Ihnen und mir. Aber wir werden nie unsern Kopf so rein und unbeschmutzt wie sie auf das Kissen legen können. Vincent, ich will Ihnen einen vernünftigen Rat geben, strecken Sie nie die Hand nach ihr aus, weder mit noch ohne Segen der Kirche.
Sie sind mir unsympathisch. Meine Gründe behalte ich für mich, die sind ja auch einerlei. Aber hören Sie jetzt, was ich sage: Wenn Sie je so töricht sein sollten, sie zu Ihrer Frau zu machen, so werden Sie nie das Ende des verfluchten Tages sehen oder sich über den Anblick Ihres Brautbettes freuen. Mensch, ich könnte Sie mit meinen bloßen Fäusten erschlagen, wenn es nötig wäre. Aber ich hoffe, dass ich es ein wenig eleganter tue. Seien Sie ganz ruhig – das verspreche ich Ihnen.«
»Du irisches Schwein!« Ganz plötzlich war in St. Vincent der Teufel wach geworden.
McCarthy sah plötzlich in den Lauf eines Revolvers hinein. »Ist er geladen?« fragte er ruhig.
»Gewiss«, sagte St. Vincent zornig.
»Ich glaube Ihnen. Aber worauf warten Sie. Drücken Sie ab, hören Sie.«
Der Finger, der abdrücken sollte, bewegte sich, und ein verdächtiges Klicken ertönte.
»So ziehen Sie durch. Ziehen Sie durch!« sage ich. »Als ob Sie das könnten, bei dem Flackern in Ihren Augen.«
St. Vincent versuchte den Kopf abzuwenden.
»Sehen Sie mich an, Mann!« kommandierte McCarthy. »Sehen Sie mir in die Augen, wenn Sie es tun.« Wider Willen musste der Korrespondent den Kopf wieder drehen, sodass seine Augen denen des Irländers begegneten. »Jetzt!«
Zähneknirschend drückte St. Vincent ab – wenigstens glaubte er es zu tun. Sein Wille war bereit und gab den Befehl, aber die Angst in seiner Seele hielt ihn zurück.
»Wohl gelähmt, der arme, kleine, zitternde Finger, was?« grinste Matt dem gepeinigten Mann ins Gesicht. »Dann dreh ihn jetzt nach der anderen Seite, so, und leg ihn weg, vorsichtig … vorsichtig … vorsichtig.« Seine Stimme wurde zu einem knurrenden, beruhigenden Flüstern.
St. Vincent ließ den Drücker los, der Revolver glitt ihm aus der Hand, und mit einem kaum hörbaren Seufzer sank er kraftlos auf einen Stuhl. Er versuchte sich aufzurichten, fiel aber statt dessen mit dem Oberkörper auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den zitternden Händen. Matt zog sich die Fäustlinge an, warf ihm einen mitleidigen Blick zu, ging dann und schloss vorsichtig die Tür hinter sich.
6
Im Frühjahr setzte die große Abwanderung aus Dawson ein. Manche zogen fort, weil sie sich ein Vermögen gemacht hatten, viele, weil sie nichts mehr zusetzen konnten. Alle aber kauften Hunde, soviel sie nur kriegen konnten. Dann reisten sie über das dünne Frühlingseis nach Dyea.
Dave Harney hatte so viele Hunde aufgekauft, dass er die Preise diktieren konnte, und er diktierte nicht sanft! Er ging mit strahlendem Gesicht umher.
»Wollen Sie auch fort?« fragte ihn Welse eines Tages, als die blasse Mittagssonne zum ersten Mal wärmte.
»Denke nicht daran! Erst muss ich mein Lager an Mokassins losschlagen, von den Stiefeln gar nicht zu reden. Wissen Sie, Welse, mit dem Zucker haben Sie mich tüchtig hereingelegt, meine Puddings haben mich diesen Winter ein paar tausend Dollar gekostet. Aber ich hab’s wieder hereingeholt. Übrigens, haben Sie noch Gummistiefel?«
»Nein, mein Lager war schon Anfang des Winters geleert.«
Dave