Om mani padme hum. Wilhelm FilchnerЧитать онлайн книгу.
Der Generalgouverneur bittet mich nach langen, fruchtlosen Debatten, mich noch etwas zu gedulden. Das Eis scheint langsam zu brechen! Geduld ist aller Schmerzen Arznei!
1. Juni. Telegraphische Anfrage in Kuldscha und Taschkent nach dem Verbleib des mir von Potsdam nachgesandten Instruments.
Soeben erscheinen zwei chinesische Kriminalbeamte, um vier Photographien von mir für den chinesischen Pass zu erbitten. Gute Auspizien. Gleichzeitig erbittet der Direktor der Munitionsfabrik, der Bruder des Gewaltigen, meinen Besuch. Ich lehne ab, um beim Generalgouverneur kein neues Misstrauen zu erregen. Der Direktor der Munitionsfabrik antwortet: »Ich bürge bei meinem Bruder für Sie.« Seine kleine kranke Tochter kann in ihrer Dankbarkeit gegen mich nicht genug tun. Dudewin feiert den 30. Geburtstag seines ältesten Sohnes. Da er ihn gern als Konsul nach der Sowjetunion schicken möchte, ist das Generalkonsulat der Sowjetunion zu einer Feier eingeladen.
2. Juni. Vormittags starke Leibschmerzen: die ersten Anzeichen eines beginnenden Gallensteinleidens. Aus Manaß treffen von Pater Hilbrenner 2000 Lan ein. Endlich habe ich wieder Geld. Ohne die Steyler Mission hätte ich schon in Tihwa die Zelte abbrechen müssen. Ich bitte um Hilbrenners Besuch in Tihwa. Vielleicht gelingt es seiner Verhandlungskunst, den Generalgouverneur zu bestimmen, mir die Pässe für die Weiterreise auszuhändigen. Dieser treue Mann kommt sofort. Am ersten Tag legt er 120 Kilometer zu Pferde zurück. Bald nach seiner Ankunft, am 5. Juni, wird er mit mir vom Dao-tai empfangen. Da höre ich zu meinem nicht geringen Erstaunen, dass man mich anklagt:
1. die Grenze Chinas ohne chinesischen Reisepass überschritten zu haben;
2. in China Messungen ohne Erlaubnis ausgeführt zu haben, da weder mein deutscher Pass noch das Empfehlungsschreiben des Generalkonsuls von Tientsin solche Arbeiten erwähnt,
3. außerdem fehle meinem chinesischen Reisepass das Visum des Chinesischen Auswärtigen Amtes in Peking,
4. sei weder die chinesische Grenzstelle in Chorgos noch Tihwa von meiner Ankunft benachrichtigt worden.
Ich antworte: »Aufgrund dieser Vorgänge hätte mich ja der Generalgouverneur glatt einsperren können!«
Der Dao-tai nickt vielsagend.
Dann fahre ich fort: »Es ist also ein besonders großes Entgegenkommen des Generalgouverneurs, wenn er mich trotz dieser Verstöße, die man mir zur Last legt, so wohlwollend behandelt und aufgenommen hat!«
Der Dao-tai stimmt zu. Ich schließe: »Unter diesen Verhältnissen bin ich dem Gouverneur für seine mir bisher erwiesene Güte doppelt dankbar.«
Der Dao-tai meint dann, ich möge mich nur noch einige Tage gedulden; er werde noch einmal persönlich für mich eintreten und hoffe, mir bald das Jawort zu bringen.
Einige Stunden später schickt mir der Dao-tai seine Photographie mit einer freundlichen Widmung. Ich danke und beteuere außerdem, dass ich für alles, was mir zustoßen könne, auf jeden Schadenersatz von chinesischer Seite verzichte und dass ich selbst jede Verantwortung trage.
Schließlich benachrichtige ich den Dao-tai, dass ich ihn, den Generalgouverneur und alle seine Minister demnächst bei mir zu einem Festessen zu begrüßen hoffe. Das ist der einzige Weg, um rasch zum Ziel zu kommen.
Am Abend des 5. Juni erwachte ich mit wahnsinnigen Leibschmerzen. Ich konnte nicht mehr liegen, so hatte ich zu leiden. Beick und die Missionare kamen augenblicklich. Man legte mir heiße Kompressen auf den Leib. Bald stellte sich schweres Erbrechen ein. Wie ich später erfahren sollte, war das der erste Gallensteinanfall!
Am 6. Juni kommt Joseph mit der Freudenbotschaft, dass der Pass in ein paar Tagen da sein werde! – Vielleicht, vielleicht auch nicht! Ärztekonferenz wegen meines Leidens. Die Diagnose schwankt zwischen Gallensteinkolik und Leberkrankheit.
Vormittags mache ich trotz meiner Anfälligkeit mit Pater Hilbrenner Besuche bei folgenden Ministern: Ji-tschin-tschang, dem Chef des Geheimen Kabinetts des Generalgouverneurs, Siü-tschin- tschang, dem Finanzminister, Liu-tschin-tschang, dem Kultusminister, Jen-tschin-tschang, dem Ackerbauminister, und Wu-tschin-tschang, dem Telegraphendirektor.
Mein Freund Cavalieri benachrichtigt mich, dass der Generalgouverneur mir die Erlaubnis verweigert, die Zeitsignale von Peschauer aufzunehmen. Niemand hat Zutritt zu dem Empfangsraum. Der Tyrann trägt den Schlüssel in seiner Tasche!
In der Missionsstation gibt es eine Abwechslung mit humoristischem Einschlag. Pater Veldman wird von Zahnweh geplagt; eine goldene Zahnbrücke ist gebrochen. Während der Nacht spielt der Missionshund mit dem künstlichen Gebiss seines Herrn und bricht noch einige Zähne aus!
Trost im Leid: Meine Passangelegenheit soll günstig stehen!
Ich verfüge jetzt ungefähr über 1000 Lan zur Reise nach Kansu. Meine bisherigen Auslagen von 600 Lan wollen mir die beiden gütigen Missionare Hilbrenner und Veldman stunden. Sie erklären sich sogar bereit, mir weitere Geldmittel vorzuschießen.
Der Geheimpolizist Joseph verriet mir des Gouverneurs Besorgnisse. Der Allmächtige glaubt nämlich, so orakelte Joseph, dass Deutschland und die Sowjetunion gemeinsame Sache machen. Da nun Sinkiang zwischen dem Gebiet der Sowjetunion und dem bolschewistisch eingestellten Kansu liege, sei es nicht unwahrscheinlich, dass Deutschland in Sinkiang in bolschewistenfreundlichem Sinne wirken wolle! – Ich war also nach der allerhöchsten Ansicht der Hund im Kegelschub!
Am 10. Juni gab ich Auftrag nach Tientsin, die fünf Kisten der für mich aus Deutschland eintreffenden Negativfilme ungeöffnet an die katholische Mission in Yen-tschou-fu in Schantung zu senden mit der Bitte, diese bei nächster Gelegenheit unter sicherem Geleit an die katholische Mission in Lantschou weiterzugeben.
Es war ein Kommen und Gehen in meinem Quartier. So erschien u.a. ein Geheimpolizist, der Angaben über die Anzahl meiner Wagen, Pferde, Apparate, Gepäckstücke und Waffen erbat. Sie müssten in meinem Pass aufgeführt werden, den ich ganz sicher am nächsten Tag erhalten würde.
12. Juni. Das Orakel versagte auch diesmal.
13. Juni. Zu meinem Schrecken erfahre ich nun, dass der Generalgouverneur den Pass wiederum abgelehnt hat. Ich schreibe sogleich drei Briefe: einen an das Auswärtige Amt in Berlin, den zweiten an den Deutschen Generalkonsul in Tientsin und den dritten an meinen Generalbevollmächtigten in Berlin.
Die neuerliche Passverweigerung soll, wie man mir sagt, darauf zurückzuführen sein, dass tags zuvor ein deutsches Unternehmen ohne ausdrückliche Genehmigung des Generalgouverneurs in Sowjethände übergegangen sei. Mit dieser Transaktion bringt man mich in Verbindung. Ich führe den Nachweis, dass ich diesen Dingen durchaus fernstehe!
Vorläufig lässt mir der Gouverneur die wenig erbauliche Mitteilung machen, dass ich auf acht bis zehn Tage ruhig verreisen könne. Dann sei es ja noch immer früh genug, in meiner Passangelegenheit weitere Schritte zu unternehmen. Das waren also wieder recht nette Aussichten!
Meine Geduld war nun wirklich zu Ende. Ich musste jetzt taktisch vorgehen. Statt einer Antwort lud ich die hohen Herren zu einem festlichen Diner ein. Sämtliche Minister sagten zu, auch der Höchstgebietende. Dieser entstieg im Gehrock unter starker militärischer Eskorte einer eleganten europäischen Kutsche. Die Minister erschienen sämtlich im Festgewand. So waren wir zu achtzehn Personen. Es wurden sehr freundliche Reden gehalten, und während des Diners überreichte mir der Außenminister feierlich den langersehnten Pass. Das war mein Lohn für alle Geduld und alle Kämpfe.
Nun ging alles wie am Schnürchen. Die nächsten Tage waren den Vorbereitungen zur Weiterreise gewidmet. Ich machte beim Generalgouverneur sowie bei allen Ministern einen Abschiedsbesuch und wurde schließlich noch zu einem äußerst prunkvollen und luxuriösen Festmahl im Sommerpalast des Generalgouverneurs eingeladen. Diesem Diner wohnten sämtliche Abgeordnete bei, insgesamt wohl 100 Gäste.
Der Generalgouverneur wollte mir absichtlich vor allem Volk ein ganz »großes Gesicht« geben.
Als ich dann mit meinen beiden Wagen Tihwa, das mich fast sechs Wochen in seinen Mauern festgehalten hatte, entrann, gab mir der Außenminister sogar persönlich das Geleit, und allerseits wurden mir Ehrerbietung und Achtung entgegengebracht.