Antisemitismus. Achim BühlЧитать онлайн книгу.
seiner zweiten Schrift:
»Also muthig in den offenen socialpolitischen Parteikampf hinein, in den ›frischen, fröhlichen Krieg‹ einer wahrhaft deutschen Überzeugung mit der Losung: Wählen wir keinen Juden, weder in unsere Vereins- noch Communal-, Land- und Reichstagsvertretungen.« (Marr 1880b: 6)
Zwar war Marr mit der Gründung der „Antisemitenliga“ kein Erfolg beschieden, insofern sich diese kaum gegründet bereits Ende 1880 wieder auflöste, doch seine Propagandaschriften waren von nachhaltiger Wirkung. Der dt. Nationalsozialismus übernahm Marrs dehumanisierende Sprache, die Bezeichnung der Juden als »Ratten«, wie etwa in dessen Schrift Goldene Ratten und rothe Mäuse aus dem Jahr 1880, in der Marr die Juden gleichfalls als »Vampyre« bezeichnete und die Juden bezichtigte, die »schwerwiegendste Mehrzahl der Vampyre der dt. Gesellschaft« zu stellen. Schule machte gleichfalls die benutzte Wortwahl von der »roten« und der »goldenen Internationale«. Mit »roter Internationale« meinte Marr die »Socialdemocratie«, mit »goldener Internationale« bezeichnete er die »Alliance israélite«, die nichts anderes im Sinn habe, als durch »fürchterlichen Wucher« ein »neues Jerusalem« zu errichten und alle Nichtjuden zu unterdrücken. Der politische Journalist benutzte bereits die vom dt. Nationalsozialismus in dessen Propaganda bemühte Gleichsetzung von Judentum und Kapitalismus sowie von Judentum und Sozialdemokratie bzw. Kommunismus.
Im Jahr 1878 gründete der Hofprediger Adolf Stöcker (1835–1909) in Berlin die Christlich-soziale Arbeiterpartei, die sich in der Arbeiterschaft indes nicht verankerte, ihre Wähler vielmehr aus der verunsicherten Mittelschicht sowie dem Kleinbürgertum gewann. Ein Jahr darauf hielt Stöcker die programmatische Rede Unsere Forderungen an das moderne Judenthum. Stöckers Rede illustriert, wie hochgradig der Rassebegriff Ende der 1870er-Jahre bereits den antisemitischen Diskurs bestimmte. So betonte Stöcker immer wieder, dass es sich bei den Juden »doch gewiss um eine fremde Race« handele und unterstrich, dass dieser Aspekt bei der „Judenfrage“ keinesfalls übersehen werden dürfe. Israel sei ein fremdes Volk, welches »nie mit uns eins werden kann, außer wenn es sich zum Christenthum bekehrt«. Man dürfe nicht verkennen, dass Israel den Deutschen über den Kopf wachse. Es stehe »Race gegen Race«, es sei ein »Racestreit« entbrannt, der aufgrund der Positionen der Juden in der Wirtschaft eine große Gefahr darstelle. Stöcker knüpft in seiner Rede an Marr und Glagau an, insofern er gleich zu Beginn bekräftigt: »Die sociale Frage ist die Judenfrage.«
Die Schärfe der Rede Stöckers offenbart die Verwendung der antijüdischen Pathologisierung. Der protestantische Prediger spricht von »Krankheitssymptomen«, die den gesamten »Volkskörper in allen Gliedern« erfasst hätten sowie von einem »Krebsschaden«, der sich immer weiter fresse und »unsere Zukunft bedroht«. »Ehe diese Giftquellen nicht gereinigt sind«, so Stöcker, »ist an eine Besserung unserer Zustände nicht zu denken.« Der Hofprediger macht dabei unmissverständlich klar, dass er mit »Krebsschaden« das moderne Judentum meint. Verantwortlich für die drohende Gefährdung sei der »jüdische Mammonsgeist«, der das Volk verderbe sowie die Intoleranz der »Judenpresse«, welche gegen das Christentum hetze und die relevante Existenz der „Judenfrage“ mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht verschweige. Die Anzahl von 45 000 Juden in Berlin sei schlicht und einfach zu viel, das Judentum stelle »eine große Gefahr für das deutsche Volksleben« dar:
»Wenn sie wirklich mit uns verbunden wären, hätte die Zahl nichts Bedenkliches. Aber da jenes halbe Hunderttausend eine in sich geschlossene Gemeinschaft bildet, in guten Verhältnissen, in steigender Macht, mit einer sehr profitablen Verstandeskraft ausgerüstet, ohne Theilnahme für unsere christlich-germanischen Interessen, so liegt darin eine wirkliche Gefahr […] In ihrem Besitz sind die Geldadern, Bank und Handel; in ihren Händen ist die Presse und unverhältnismäßig drängen sie sich zu den höheren Bildungsanstalten.« (Stöcker 1880: 17)
Wie Marr, so entwirft auch Stöcker, um Sozialneid wie soziale Verdrängungsängste zu schüren, das Bild vom „allmächtigen Juden“, der die Wirtschaft beherrscht und die Arbeit des »schaffenden Arbeiters« ausbeute, betont indes im Unterschied zu Marrs erster Schrift stets, dass Deutschland noch nicht verloren, das Ende noch nicht gekommen sei. Im Unterschied zu Marr skizziert Stöcker ein Programm, das sich unmittelbar an den Gesetzgeber richtet, der dafür Sorge zu tragen habe, dass dem »jüdischen Capital« der »nötige Zaum angelegt« werde. Stöcker fordert diesbezüglich die Beseitigung des Hypothekenwesens im Grundbesitz sowie:
»Eine Aenderung des Creditsystems, welche den Geschäftsmann von der Willkür des großen Capitals befreit; Aenderung des Börsen- und Aktienwesens; Wiedereinführung der confessionellen Statistik, damit das Mißverhältnis zwischen jüdischem Vermögen und christlicher Arbeit festgestellt werden kann; Einschränkung der Anstellung jüdischer Richter auf die Verhältniszahl der Bevölkerung; Entfernung der jüdischen Lehrer aus unseren Volksschulen, zu dem Allen Kräftigung des christlich-germanischen Geistes.« (Stöcker 1880: 20)
Dies alles, so Stöcker, seien durchaus geeignete Mittel, »um dem Überwuchern des Judentums im germanischen Leben, diesem schlimmsten Wucher, entgegenzutreten.« Wie Marr, so setzte auch Stöcker den »zügellosen Capitalismus« mit dem »modernen Judenthum« gleich, wodurch das reale Wesen der Verhältnisse verschleiert und „der Jude“ zum Sündenbock eines Kapitalismus erklärt wird, dessen Auswüchse in der Epoche des Hochimperialismus zu existentiellen Verunsicherungen führten. Den Anteil der Juden an der Berliner Bevölkerung bezeichnete Stöcker als den »übelsten Faktor des hauptstädtischen Treibens«. Die krude Mischung aus nationalistischen, antikapitalistischen, antifortschrittlichen, antiliberalen wie antisozialistischen Positionen verschaffte der von Stöcker gegründeten „Berliner Bewegung“ in den 1880er-Jahren eine nennenswerte kleinbürgerliche Massenbasis. Die antisemitische Sammlungsbewegung imaginierte den Juden dabei zumeist als mächtige, das ökonomische wie das politische Geschehen steuernde Instanz. Der »gute Berlin Bär« tanze, so heißt es beispielsweise bei Stöcker »bereitwillig nach der Pfeife seiner drei Herren, des Fortschritts, der Sozialdemokratie und des eigentlichen Bärenführers, des Judentums.«
Der politische Einschnitt des Jahres 1879 spiegelte sich im Sachverhalt, dass der preußische Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) im November in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz mit dem Titel Unsere Aussichten veröffentlichte, der den Berliner Antisemitismusstreit eröffnete. Das zeitliche Zusammentreffen der konservativen Wende Bismarcks und des Aufsatzes von Treitschke war keineswegs zufälliger Natur. Vielmehr beabsichtigte Treitschke mit seinen antisemitischen Attacken offensiv für den Kurswechsel des Kanzlers Partei zu beziehen. Bismarck sollte dazu ermutigt werden, am Projekt der „inneren Reichsgründung“ festzuhalten. Treitschke, der gemeinsam mit Eduard Lasker (1829–1884) und Ludwig Bamberger (1823–1899) zu den führenden Politikern des frühen Nationalliberalismus gehörte, vollzog im Unterschied zu seinen Parteikollegen die konservativreaktionäre Wende Bismarcks mit. Der Riss ging folglich durch die Nationalliberalen, sodass Treitschke ab 1878 als Abgeordneter ohne Parteizugehörigkeit im Reichstag saß. Treitschkes Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern ist folglich auch als Rachefeldzug gegen die jüdischen Abgeordneten Bamberger und Lasker zu werten, die sich der Angriffe Bismarcks auf die Prinzipien des politischen Liberalismus widersetzten. Treitschke verfolgte gewissermaßen die Absicht, den verlorenen politischen Streit bezüglich der Ausrichtung des Nationalliberalismus posthum auf publizistischem Sektor zu gewinnen.
Im Laufe der 1880er-Jahre gelang es dem Antisemitismus, sich in der Parteienlandschaft zu etablieren. Im Jahr 1882 blieb zwar der „Internationale antijüdische Kongress“ in Dresden ohne Ergebnisse wie ebenso der im Jahr darauf folgende Kongress in Chemnitz, doch zog erstmals im Jahr 1887 der Marburger Bibliothekar Otto Böckel (1859–1923) in den Reichstag als Abgeordneter der antisemitischen „Deutschen Reformpartei“ ein, zu der sich die „Deutsche Antisemitische Vereinigung“ des Publizisten und Verlegers Theodor Fritsch (1852–1933) gesellte, dessen 1887 erschienener Antisemiten-Katechismus größere publikatorische Erfolge erzielen konnte (ab 1907 Handbuch der Judenfrage). Während der Hofprediger Stöcker und Max Liebermann von Sonnenberg (1848–1911) im Jahr 1889 die „Deutschsoziale Partei“ gründeten, der sich auch Fritsch anschloss, bildeten Gruppierungen um Otto Böckel ein Jahr darauf die „Antisemitische Volkspartei“. Zusammengenommen gelang es in den 1890er-Jahren den