Sophienlust - Die nächste Generation 3 – Familienroman. Ursula HellwigЧитать онлайн книгу.
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Der See am Fuß des Hügels, auf dem der prachtvolle Bau des Internats stand, schimmerte in der Abendsonne in allen nur erdenklichen Farben. Zahlreiche Schüler, die ausnahmslos aus gut betuchten Familien stammten, hatten es sich auf der großzügigen Terrasse bequem gemacht. Es wurden Gespräche geführt, einige Kinder beschäftigten sich mit ihren Smartphones und wieder andere hatten ihre Nasen in interessante Bücher gesteckt.
Die frühen Abendstunden gehörten für alle Schüler zu ihren Freizeiten, in denen sie keine Verpflichtungen hatten. Tagsüber gab es zahlreiche Programme und Angebote, und jeder Schüler war gehalten, sich daran zu beteiligen. Es gab die nahezu freie Wahl zwischen Reitunterricht, Tennis, Leichtathletik, Wassersport aller Art, der Teilnahme am Schulorchester, in einer Theatergruppe oder die Mitarbeit in einer Gruppe für künstlerisches Gestalten. Die Internatsleitung achtete streng darauf, dass jeder Schüler sich in irgendeiner Weise in die Gemeinschaft einbrachte. Aber persönliche Freizeit gehörte natürlich auch zum täglichen Dasein.
Fabian Schöller, der etwas schmächtige, dreizehn Jahre alte Junge, hatte sich nicht auf der Terrasse eingefunden. Das tat er ohnehin recht selten. Zwar hatte er nichts gegen seine Mitschüler, aber es war ihm in den beinahe zwei Jahren, die er nun schon in diesem Internat weilte, nicht gelungen, eine gute Verbindung zu ihnen zu bekommen. Viele zeigten sich doch ein wenig überheblich, und mit dieser Charaktereigenschaft fand Fabian sich nicht zurecht.
Da war ihm die kleine Ella Mareno schon lieber. Das zehn Jahre alte Mädchen stammte aus einem kleinen Ort am Bodensee.
Dort hatten Ellas Eltern einen namhaften Bootsbaubetrieb besessen. Vor etwa einem Jahr waren sie nach Australien gereist, um dort an einer Regatta teilzunehmen. Obwohl es sich bei den beiden um erfahrene Segler gehandelt hatte, waren sie in einem Sturm, der während der Regatta aufgezogen war, gekentert und ums Leben gekommen. Ella, die über keine weiteren Verwandten verfügte, hatte einen Vormund bekommen, und der war der Ansicht gewesen, dass die Unterbringung in einem Nobelinternat in der Schweiz für das Mädchen von Vorteil sein könnte.
Genauso wie Fabian hatte auch Ella zu den Mitschülern keine wirklich freundschaftlichen Kontakte knüpfen können. Das etwas schüchterne Mädchen fühlte sich in dem Internat einfach nicht wohl. Nur zu Fabian hatte Ella volles Vertrauen und hielt sich möglichst oft in der Nähe des Jungen auf. Fabian sah seinerseits in Ella so etwas wie eine kleine Schwester, für die er sich verantwortlich fühlte.
Während der vergangenen Tage hatten sich viele Dinge ereignet, die sowohl Ellas als auch Fabians Leben grundlegend verändern würden. Aus diesem Grund steckten die beiden Kinder die Köpfe derzeit noch enger zusammen. Auch an diesem Abend hielten sie sich zusammen an ihrem Lieblingsplatz unter einer großen Trauerweide auf. Zwar befand sich hier keine Bank und auch keine andere Sitzmöglichkeit, aber Ella und Fabian reichte der weiche Grasboden aus, um sich dort hinzusetzen.
»Du hast mir eine Menge von Sophienlust erzählt«, begann Ella. »Es muss dort wunderschön sein, viel schöner als hier, weil die Kinder da netter und überhaupt nicht eingebildet sind. Jetzt wirst du bald wieder nach Sophienlust ziehen. Dein Vormund hat sich doch gestern mit unserem Direktor unterhalten und ihm gesagt, dass du in Sophienlust wahrscheinlich besser aufgehoben bist als hier.«
»Stimmt«, bestätigte Fabian. »Und ich freue mich sehr, wenn ich wieder nach Sophienlust ziehen darf. Meine Großtante hat damals unbedingt gewollt, dass ich in diesem Internat leben soll. Das fand sie standesgemäß. Ich habe sie nie verstanden, und ich war auch nie gerne hier. Aber nun ist meine Großtante ganz plötzlich gestorben. Du darfst nicht denken, dass ich ihr den Tod gewünscht habe. Es ist eben einfach so passiert. Aber nun habe ich diesen Vormund, der für mich mehr Verständnis hat und nicht darauf besteht, dass ich länger in diesem Internat bleiben muss. Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich jemals wieder in Sophienlust leben würde, bei meinen Freunden und meiner Dogge Anglos. Ich kann es noch gar nicht fassen, und ich hoffe, dass mein Vormund es sich nicht doch noch anders überlegt.«
Ella schüttelte den Kopf. »Das wird er bestimmt nicht tun. Du darfst zurück, und das gönne ich dir. Am liebsten würde ich mit dir kommen. Aber das geht ja nicht. Das wird mein Vormund nicht erlauben. Wenn du weg bist, ist es hier überhaupt nicht mehr schön. Dann habe ich niemanden mehr, dich nicht und Gero auch nicht.«
Fabian seufzte hörbar auf. Ella tat ihm in der Seele leid. Ohne ihn würde sie sich mit Sicherheit sehr verlassen vorkommen, und dann musste sie auch noch auf Gero verzichten.
Bei Gero handelte es sich um einen kleinen braunen Hund von vielleicht drei Jahren. Vor wenigen Tagen hatte Ella ihn in einem Leinensack auf einer Müllkippe gefunden. Herzlose Menschen hatten sich des Hundes auf diese tierquälerische Weise entledigt. Nachdem Ella dem Hund den Namen Gero gegeben und ihn versorgt hatte, war aus dem struppigen Etwas ein durchaus ansehnlicher Hund mit seidigem Fell geworden. Nur zu gerne hätte Ella sich weiterhin um Gero gekümmert und ihn als ihr Haustier behalten. Aber Tierhaltung war im Internat leider nicht erlaubt, und es sollte auch keine Ausnahme gemacht werden, damit am Ende nicht andere Kinder ebenfalls auf einer Ausnahmegenehmigung bestehen würden. So war Gero einfach in ein Tierheim gegeben worden und sollte nun vermittelt werden. Solange sich noch kein Interessent gefunden hatte, konnte Ella ihren vierbeinigen Freund regelmäßig besuchen. Aber irgendwann in absehbarer Zeit würde Gero ein neues Zuhause gefunden haben und für Ella nicht mehr erreichbar sein. Darunter litt das Mädchen mehr, als es zugeben wollte.
»Ich finde es schlimm, dass du Gero nicht behalten darfst«, bemerkte Fabian. »Schließlich hast du ihn gerettet, dich um ihn gekümmert und bist jetzt auch für ihn verantwortlich. Das sieht hier leider niemand ein. In Sophienlust gäbe es das nicht. Dort dürftest du Gero behalten.«
»Ja, in Sophienlust. Da ist alles ganz anders und viel besser als hier. Aber da komme ich leider nie hin und Gero auch nicht. Mensch, Fabian, du hast es gut. Du darfst zurück nach Sophienlust. Weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast?«
»Ja, das weiß ich genau«, antwortete der Junge ernsthaft. »Und ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich für dieses Glück bin. Aber warte mal. Wieso solltest du nicht einfach zusammen mit mir nach Sophienlust kommen? Gero könnte natürlich auch mitkommen. Das wäre doch für alle das Beste.«
»Und wie soll das funktionieren?« Ella zog hilflos die Schultern hoch. »Mein Vormund hat mich in dieses Internat gesteckt, weil er glaubt, dass das gut für mich ist. Jetzt wird er wohl kaum einsehen, dass Sophienlust für mich die noch bessere Lösung sein könnte. Selbst wenn ich ihm sage, dass ich gern nach Sophienlust umziehen möchte, wird das nicht helfen. Wer hört schon auf ein Kind?«
»Wahrscheinlich keiner«, gestand Fabian offen. »Aber es ist vielleicht auch gar nicht nötig, dass du mit deinem Vormund redest. Ich erzähle Nick und Tante Isi, wie gerne du mit mir nach Sophienlust kommen würdest. Die beiden werden auch sehr gut verstehen, dass du dich um Gero kümmern und ohne mich nicht hier im Internat bleiben willst. Dann können sie mit deinem Vormund reden und ihm alles erklären.«
»Meinst du wirklich, dass das helfen könnte?« Ella schien recht wenig zuversichtlich zu sein. Trotzdem leuchtete so etwas wie eine zaghafte Hoffnung in ihren Augen auf.
»Ich weiß es nicht genau, aber es könnte durchaus sein. Nick und Tante Isi haben schon so vielen Kindern geholfen, die sich in einer ähnlich blöden Situation befunden haben wie du. Weißt du was? Morgen telefoniere ich sowieso mit Nick. Dann frage ich ihn, ob er mit deinem Vormund reden mag. Ella, ich habe heute gehört, wie der Direktor zu meinem Vormund gesagt hat, dass ich wahrscheinlich schon in der nächsten Woche nach Sophienlust umziehen kann. Mit ein bisschen Glück sind wir beide zusammen mit Gero schon in einer Woche in Sophienlust!«
»Sophienlust!« Ella seufzte verträumt. »Ich war ja noch nie dort. Aber du hast mir so tolle Sachen darüber erzählt. Deshalb weiß ich, dass Sophienlust ein Paradies sein muss.«
»Es ist ein Paradies«, verkündete Fabian im Brustton der Überzeugung. »Einen noch schöneren Ort gibt es auf dieser Welt nicht, und das wirst du selbst sehen. Wir beide werden ganz bestimmt schon bald zusammen dort sein. Wenn Nick und Tante Isi deinen Vormund bearbeiten, kann er gar nicht anders entscheiden. Dann lässt er dich nach Sophienlust umziehen.«
Ella hoffte, dass Fabian sich nicht täuschte und