Ägypten. Juergen StryjakЧитать онлайн книгу.
Veränderung nur noch irgendwie auf die Straße tragen, ins wirkliche Leben.
Dass dies gelang, ist dem Mubarak-Regime zu verdanken. In der Nacht vom 27. zum 28. Januar 2011 stellte es landesweit das Internet fast komplett ab. Der Volksaufstand gegen Mubarak hatte am 25. Januar begonnen, mit einer ersten Demonstration von mehreren Zehntausend Leuten. Deshalb nennen Ägypter die Revolution auch, obwohl sie 18 Tage lang dauerte, Thauret 25. Janair, die Revolution vom 25. Januar. Für den 28. Januar war zu einem Tag des Zorns aufgerufen worden. Der Aufruf ging gerade noch so wie ein Lauffeuer durch die sozialen Netzwerke, dann war das Internet plötzlich weg. Wer jetzt wissen wollte, was an jenem Tag passierte, musste rausgehen. Und es waren tatsächlich Hunderttausende, die im ganzen Land auf die Straße gingen, nicht nur in Kairo, sondern auch in Alexandria, Port Said, Ismailia und vielen anderen Städten. »Die User hatten im Internet einen bestimmten Umgang miteinander gelernt«, erzählt Ghada al-Ahdar, »nun dachten sie: Genau so verhalten wir uns auch in der Realität, jetzt erst recht.«
Der 28. Januar, ein Freitag, wird zu dem Tag, an dem die Menschen ihre Angst besiegen. Am Morgen schaltet das Regime auch die Handynetze ab. Kurz zuvor empfing ich noch eine jener Kurzmitteilungen, die Aktivistengruppen massenhaft verschickten: »Versammelt Euch vor den Moscheen und Kirchen! Bildet Demonstrationszüge! Verzichtet auf religiöse Symbole!« Als ich kurz nach Mittag am Talaat-Harb-Platz im Stadtzentrum unterwegs bin, biegen aus den Seitenstraßen Demonstranten auf die Hauptstraße ein, erst in kleinen Gruppen, die aber schnell anwachsen. Viele singen die Nationalhymne. Wenn Demonstrationszüge aufeinandertreffen und sich vereinen, jubeln die Massen. Die Sicherheitskräfte zünden Tränengasgranaten. Auf der Flucht vor dem Tränengas frage ich einen jungen Demonstranten im Laufschritt, ob er denn keine Angst habe. »Ich habe mehr Angst um mein Land als um mich«, ruft er ohne zu zögern. »Wir leben wie zu Pharaonenzeiten«, sagt ein anderer zornig, »aber heute jagen die Sklaven die Pharaonen weg.« Als ich Stunden später zurück ins ARD-Studio komme, sehe ich auf allen Brücken über den Nil machtvolle Demonstrationszüge, die sich Richtung Tahrir-Platz bewegen. Nach Einbruch der Dunkelheit brennt ein paar Häuser weiter das Hochhaus von Mubaraks Regierungspartei. Niemand löscht das Feuer.
Die Ziele der Proteste waren vor Beginn der ersten Demonstration im Internet veröffentlicht worden, von den Aktivisten der Protestbewegung 6. April zum Beispiel. Sie forderten die Einführung eines Mindestlohns, die Aufhebung der Notstandsgesetze sowie die Absetzung von Innenminister Habib al-Adly, den viele Menschen für die Polizeigewalt der vergangenen Jahre verantwortlich machten. Doch innerhalb weniger Tage, ja Stunden, nachdem es losging, schmolzen alle diese Ziele zu einem einzigen Sprechchor zusammen: »Ash-shaab yurid isqat an-nizam.« – Das Volk will den Sturz des Regimes. Auf dem Tahrir-Platz erzählen mir die Leute, welche Veränderungen sie vom Sturz des Regimes erhoffen. »Wir wollen ein System wie in Deutschland oder Schweden, mit Krankenversicherung und Kinderbetreuung«, fordert eine Ägypterin, »ich muss ein ganzes Jahr arbeiten, um die Schule meiner Kinder bezahlen zu können. Wenn einer bei uns seine Meinung sagt, wird er geschlagen. Wir wollen, dass Ägypten endlich ein ganz normales Land wird.« Die Revolution hat zwar eine Vielzahl von Aktivisten, aber nicht wirklich einen Anführer. Es gibt auf dem Tahrir-Platz noch niemanden, der die politische Gesinnung der Leute für seine Zwecke missbraucht. »Das ist ein Volksaufstand«, erklärt mir ein älterer Mann auf dem Platz, »Mubarak hat uns gespalten, hier die Muslime, dort die Christen, hier diese politische Strömung, dort eine andere – damit sich am Ende die Leute gegenseitig auffressen und Mubarak die Macht behalten kann.«
Bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz, aber auch an anderen Orten in der Stadt taucht auf Plakaten und Flugblättern eine Graphik auf, die eine drahtige, kraftvolle Faust zeigt, mal weiß auf schwarzem Untergrund, mal umgekehrt, seltener auch schwarz auf blutrotem Grund. Es ist das Logo der serbischen Aktivistengruppe Otpor!, auf Deutsch Widerstand, die im Jahr 2000 maßgeblich am Sturz von Slobodan Milošević beteiligt war. Die jungen Ägypter der Bewegung 6. April ließen sich von der Taktik der Serben nicht nur inspirieren, sie hatten auch Kontakt zu ihnen. 2009 besuchte der Blogger Muhammed Adel, damals Anfang 20, in Belgrad das Zentrum für Angewandte Gewaltfreie Aktion und Strategie (CANVAS). »Bei dem Training bekam ich erklärt, wie man friedliche Demonstrationen organisiert, wie man Gewalt vermeidet und wie man der Gewalt der Sicherheitskräfte begegnet«, schilderte er in einer Dokumentation des Fernsehsenders Al Jazeera English. Gewaltfreiheit ist für die Wortführer unter den ägyptischen Aktivisten ein wichtiges Element. Einzelne gewalttätige Akte unter Hunderttausenden von Demonstranten, selbst wenn es sich nur um Steinwürfe handelt, würden nicht nur die Gegengewalt der Sicherheitskräfte provozieren. Sie würden auch der Propaganda des Regimes Argumente dafür liefern, die Demonstranten pauschal als Unruhestifter und Kriminelle zu verunglimpfen. Und sie würden die Berichterstattung beherrschen. Viele Demonstranten haben diese Idee verinnerlicht. Beim Beginn der sogenannten Schlacht der Kamele auf dem Tahrir-Platz am 2. Februar beobachte ich, wie sich Demonstranten dem Steinhagel eines Mubarak-treuen Mobs mit erhobenen Händen entgegenstellen, zumindest am Anfang. An einem anderen Tag löst sich vor dem Gebäude des Staatsfernsehens ein Demonstrationszug mit mehreren Tausend Teilnehmern innerhalb von Minuten auf, als plötzlich Steine fliegen.
Dieser Kontakt zu ausländischen Gruppen wie Otpor! kommt dem Mubarak-Regime gelegen. In den staatstreuen Medien wird zum ersten Mal jener Vorwurf erhoben, den man in den Jahren danach immer wieder hören sollte: Die Regimegegner seien vom Ausland bezahlte Agenten, die Ägypten ins Chaos stürzen sollen. Das ist Unsinn. Die Menschen gehen nicht auf die Straße, weil sie dafür 20 US-Dollar und kostenlose Lunchboxen der Fastfoodkette Kentucky Fried Chicken erhalten, wie in den Medien behauptet wird. Sie bekommen weder das eine noch das andere, sie demonstrieren, weil sie die Verhältnisse satt haben und endlich nach Jahren der Stagnation einen Wandel wollen. Die Demonstranten reagieren dann auch mit Humor auf die absurdesten Anschuldigungen. An jenem 8. Februar begegnet mir auf dem Tahrir-Platz ein junger Demonstrant mit langen, zotteligen, schwarzen Locken. Auf der Spruchtafel in seiner rechten Hand steht: »Ich habe heute noch kein Kentucky Fried Chicken bekommen.« Seine linke Hand hält eine Tafel mit dem Satz: »Bringt es endlich zu Ende, damit ich zum Friseur gehen kann.«
Junge gebildete Aktivisten aus der Mittel- und der Oberschicht sind die treibende Kraft bei den Protesten, aber ohne die Arbeiter, Handwerker und Tagelöhner aus den Armenvierteln, aus Imbaba, Boulaq ad-Dakrour und anderen Stadtteilen, hätte der Volksaufstand nie eine kritische Masse erreicht. Allerdings auch nicht ohne die Mitglieder der Muslimbruderschaft, der seit Jahrzehnten stärksten Oppositionsgruppierung im Land. Sie ist eine soziale, religiöse Bewegung und sollte mindestens bis zum Militärputsch 2013 auch eine straff hierarchisch geführte Kaderorganisation mit ergebenen Anhängern bleiben. Die Bruderschaft schließt sich den Protesten in den ersten Tagen nur zögerlich an. Über Jahrzehnte engagierte sie sich politisch zumeist nur innerhalb der Grenzen, die das Mubarak-Regime zog, um keine Massenverhaftungen oder andere Repressalien zu riskieren. In seinem Buch »Arab Fall: How the Muslim Brotherhood Won and Lost Egypt in 891 Days« beschreibt Eric Trager, wie am Abend des 25. Januar 2011, dem ersten Tag der Proteste, drei junge Muslimbrüder ins Führungsbüro der Bruderschaft eilen und den obersten Funktionären vom Ausmaß der Proteste auf dem Tahrir-Platz berichten, unter ihnen Islam Lotfy. Mohammed Mursi, der anderthalb Jahre später zum Präsidenten Ägyptens gewählt werden sollte, reagiert zornig: »Wie könnt ihr es wagen, auf den Platz zu gehen, ohne die Führung zu informieren.« Auch am zweiten Tag der Demonstrationen ruft die Führungsriege noch nicht zur Teilnahme auf. Erst am dritten Tag weist die Bruderschaft ihre Mitglieder an, sich den Protesten am darauffolgenden Tag anzuschließen. Wie mir Islam Lotfy und etliche andere junge Muslimbrüder später erzählen, ist das Zögern der Bruderschaftsführer angesichts der gerade entstehenden Volksbewegung, die auch viele junge Muslimbrüder faszinierte, die erste von vielen Enttäuschungen. Auf dem Tahrir-Platz schließen sie sich den säkularen, linken, liberalen und anderen Aktivistinnen und Aktivisten an. Die Bedeutung dieses Schulterschlusses mit Andersdenkenden kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Viele junge Muslimbrüder machen auf dem Tahrir-Platz in Kairo und in anderen Städten die Erfahrung ihres Lebens. In jenen Tagen, aber auch in den Monaten danach bekommt man eine Ahnung davon, dass die Aussicht auf Freiheit und eine moderne Zivilgesellschaft auch einer islamistischen Organisation wie der Muslimbruderschaft mit ihrer starren Ideologie zum Verhängnis werden könnte.
Am 2. Februar 2011, dem neunten Tag