von wegen früher war alles besser. Hermann GrabherЧитать онлайн книгу.
Mein Grossvater Franz-Sepp verlor im ersten Weltkrieg als 30-jähriger Soldat das Leben. Die Witwe (meine Grossmutter Kathrin) mit 2 Knaben (der Ältere war mein Vater) heiratete wieder und gebar noch sechs weitere Kinder vom zweiten Ehemann. In dieser Familie studierten drei der vier Söhne, was für eine Arbeiterfamilie jener Zeit eher ungewöhnlich war. Einer von ihnen wurde katholischer Priester, der andere Lehrer. Mein Vater besuchte das Technikum. Der Umstand, dass der Staat den zwei Waisen eine kleine Rente auszahlte, half dabei entscheidend.
Nach der Ausbildung fand mein Vater keine Arbeitsstelle, es ging ihm nicht anders als den meisten anderen Schulabsolventen des Technikums. Genau zwei Mitschüler in Vaters Klasse fanden einen Job und dies auch nur durch die Protektion ihrer einflussreichen Eltern. Infolge der wirtschaftlichen Depression vor dem zweiten Weltkrieg herrschte eine katastrophale Arbeitslosigkeit. Um die jungen Leute nicht der Resignation anheimfallen zu lassen, wurden verschiedene Hilfsprogramme und Aktionen für Jugendliche betrieben. Zum einen wurden defekte Apparate und Geräte wie Radios, Fotoapparate, Fahrräder, Motorräder und sogar Autos gratis repariert. Wer konnte, der zahlte einen bescheidenen Obolus, jeder entsprechend seiner individuellen Möglichkeiten. Beliebt war unter anderem der Rede-Club, bei dem unser Vater eine treibende Kraft war: Jedes Mitglied war gehalten sich periodisch mit einem spezifischen Thema intensiv auseinander zu setzen, um dann darüber vor all den Kollegen und der Öffentlichkeit im Allgemeinen einen Vortrag zu halten. Dies war eine Art Volkshochschule. Das Ziel war vor allem auch das Allgemeinwissen der einfachen Menschen im Dorf zu heben. In Anbetracht, dass nur wenige ein Radio besassen und die Television noch gar nicht existierte, das Internet noch nicht mal in der Fantasie bestand, war dies eine sehr sinnvolle Bildungsinstitution.
Als der Vater hörte, dass im Fürstentum Liechtenstein ein Mechaniker gesucht werde, schwang er sich aufs Fahrrad und stellte sich bei Josef Kaiser in Schaanwald (heute Kaiser Fahrzeugbau) vor. Die Realität war folgende: Ja, der Kleinbetrieb, der sich auf den Umbau von ausgedienten Autos in Traktoren spezialisiert hatte, sogenannte Auto-Traktoren, suchte tatsächlich eine Hilfskraft. Aber Josef Kaiser bekannte ohne Umschweif, keinen Lohn zahlen zu können, hingegen für Kost und Logis aufzukommen. Sozusagen beiläufig sagte Frau Kaiser, die Frau des Chefs, zum jungen Mann (unserem Vater), dass er wohl hungrig sei und dass sie ihm Spiegeleier braten würde, er solle ruhig sagen wie viele er möge. Am Schluss hatte er 7 Stück verdrückt. Unter diesen Umständen fiel es unserem Vater nicht besonders schwer zu entscheiden bei Familie Kaiser zu bleiben, Arbeit ohne Lohn hin oder her.
Die Tätigkeit meines Vaters war eine Mischung aus Konstrukteur, Mechaniker, Hausknecht und Mädchen für alles. Da die Familie Kaiser auch noch eine kleine Landwirtschaft betrieb – sehr üblich zur damaligen Zeit, musste der Vater am Morgen schon um halb sechs aus den Federn, um die Kühe zu melken. Wenn der Stall und die Tiere versorgt waren, wurde gemeinsam ein reiches Frühstück eingenommen: Üblicherweise Kaffee, Türken-Ribel, Rösti und Spiegeleier. Danach gingen Josef Kaiser und unser Vater – sein einziger Mitarbeiter – ans Tüfteln und Werkeln in der Werkstätte. Auch am Abend fand Vaters Abschlusstätigkeit im Stall statt. Nach einem Jahr eröffnete Josef Kaiser dem Vater, dass er sehr zufrieden sei mit seiner Arbeit und er gab ihm eine grüne Banknote, die das Abbild eines Holzfällers aufgedruckt hatte - fünfzig Franken. Der Vater war sehr stolz auf dieses Geld und er fuhr auf direktem Weg heim zur Mutter, übergab ihr das ganze Geld in der Annahme, dass sie es wohl nötiger hätte als er.
Unser Vater wurde bei der Familie Kaiser wie ein eigener Sohn gehalten, entsprechend harmonisch war das Verhältnis. Im nachfolgenden Jahr übergab Josef Kaiser unserem Vater eine blaue Banknote mit einem Mäher drauf - hundert Franken. Und auch dieses Geld überbrachte der Vater seiner Mutter.
Weil der Chef meines Vaters irgendwann der Ansicht war, es wäre an der Zeit, dass der Junge Geld verdienen sollte und Kaiser seinerseits nicht in der Lage war einen vernünftigen Verdienst anzubieten, half er zumindest mit auf der Suche nach einer Existenz und dies mit Erfolg. 1936 wagte mein Vater – 23-jährig - seine Geschäftsidee in die Realität umzusetzen, er gründete seine eigene Firma in der Schweiz. Es ging um die Konstruktion und Herstellung einer handbetriebenen Maschine zum Verschliessen von Konservendosen für private Haushalte. Nach dem Verschliessen durch Doppelfalz mussten die Dosen im kochenden Wasserbad sterilisiert, um den Inhalt haltbar zu machen. Mein Vater rühmte sich sein Leben lang damit, die Firma mit fünf Franken Startkapital gegründet zu haben. In der Tat waren es bestimmt einige Franken mehr. Doch es ist allemal erstaunlich mit wie wenig Geld man damals ein solches Wagnis eingehen konnte. Drei Jahre später – 1939, im Jahr des Ausbruchs des zweiten Weltkriegs - heirateten meine Eltern. In diesem Jahr – somit drei Jahre nach der Gründung – hatte Vaters Firma schon 50 Angestellte. Sein Produkt war gefragt in einer an sich desaströsen Weltlage. Wohl eher zufällig war er Produzent und Anbieter des richtigen Produkts im passenden wirtschaftlichen Umfeld. Es war Kriegszeit und wohin die Blicke schweiften, es gab vorwiegend Sorgen. Unbeeindruckt von allem gab unser Vater – der ewige Optimist - den Bau seines Familienhauses samt kleiner Werkstätte in Auftrag, das 1941 fertiggestellt war. Es war ein Lichtblick, oder eigentlich eher ein Wunder am dunkeln Firmament.
Doch leider sollte die Glückssträhne meiner Familie nicht lange dauern. Der Vater, der nun schon mehrere Jahre in der Schweiz wohnhaft war, aber sich noch nicht eingebürgert hatte (also noch immer Österreicher war), wurde von der Deutschen Besatzungsmacht mittels eines Stellungsbefehls in die Deutsche Wehrmacht eingezogen. Alle Widerstandsversuche waren ohne Chance - hoffnungslos erfolglos. Damit änderte sich die Situation schlagartig. Die Mutter – eine in Geschäftsdingen unerfahrene junge Frau – war gezwungen die Firma ohne Ehemann an ihrer Seite weiter zu führen. Doch wiederum geschah ein kleines Wunder: Als der Vater 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, existierte die Firma noch immer, wenn auch in stark redimensionierter Form. Meiner Mutter war es gelungen mit viel Mut, Gottvertrauen und weiblicher Intuition das Geschäft um alle Klippen zu schiffen. Der Neuanfang konnte beginnen.
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3 Das angepasste Kind
Angepasst zu sein ist in der heutigen Zeit mit einem Makel behaftet. Ich weiss das. Dennoch sind auch moderne Eltern von heute dem Himmel dankbar für Kinder, die sich nicht allzu renitent und auffällig gebärden. Andererseits ist es oft geradezu unerträglich mitansehen zu müssen, wenn unerzogene Kinder ihre Eltern in Geiselhaft nehmen nach dem Motto: «Entweder bekomme ich jetzt diesen Schleckstängel oder es gibt eine Szene!» Wenn man dem cleveren Kind diese Erpressung ein- oder zweimal durchlässt, hat man als Erzieher die Schlacht meist schon verloren. Und selbstredend kommt noch der andere Aspekt dazu: Tag für Tag ist das Kind in der Kita, wo die pädagogisch geschulte Tante das Regiment führt und wo die oder der Kleine genau weiss wie der Hase läuft: Da gelten für alle Kinder die gleichen Regeln, es gibt weder Ausnahmen noch Gnade. Ein Kind kapiert das nach sehr kurzer Zeit. Wenn dann die Familie zusammen ist, möchte man das Fehlen der elterlichen Nähe und Wärme während des Tages mit kleinen Gefälligkeiten kompensieren. Und sei dies nur mit einer Süssigkeit unmittelbar vor dem Abendessen. Ausserdem neigen insbesondere Eltern von nur einem oder zwei Kindern dazu, den kleinen Pascha – vielleicht etwas weniger die kleine Prinzessin – nach Strich und Faden zu verwöhnen. Es sind in vielen Fällen Paare mit später Elternschaft – heute eher das Gegenteil einer Seltenheit - mit und ohne Migrationshintergrund und einer Mentalität, die früher üblicherweise vornehmlich südlich der Alpen zu beobachten war.
Die Frage ist: Werden diese Kinder je etwas wie Verzicht lernen, insbesondere in den nächsten Altersstufen? Werden dann die Eltern nein sagen können, wenn unbedingt ein neues Smartphone oder ein Tablet der letzten Generation Not tut, selbstverständlich mit dem entsprechenden Abo? Wenn es ausschliesslich Markenklamotten sein müssen, weil die Kollegen / Kolleginnen diese auch tragen und man ohne vielleicht ausgelacht würde? Wenn der oder die Fünfzehnjährige nicht mehr akzeptieren will, schon um 22 Uhr abends zuhause sein zu müssen?
Ich persönlich war – vor vielen Jahrzehnten - ein angepasstes, folgsames und somit unproblematisches Kind. Es ist mir absolut klar, dass dies reichlich unbescheiden klingt, doch ich schwöre, es ist die Wahrheit! Ich versuchte schon in sehr jungem Alter bewusst vernünftig zu agieren. Es ging mir darum einerseits meinen Eltern und Erziehern keinen Ärger zu bereiten, andererseits war mir aber sicher auch wichtig, selbst gut dazustehen, ja vielleicht sogar ein Lob für mein stromlinienförmiges