Tod in Amsterdam. Ben KossekЧитать онлайн книгу.
spürte sie die unbändige, aber hilflose Wut, die nun langsam in ihrem Inneren nach oben kroch wie ein bösartiges Geschwür, das immer mehr von ihr Besitz ergreifen wollte. Sie konnte sich diese Wut erst gar nicht erklären, denn er betrog sie schließlich schon einige Jahre. Aber vielleicht war die Tatsache, dass er nicht nach Hause gekommen war, nun die letzte Bastion, die gefallen war. Sie ging in die Küche und machte sich erstmal einen Kaffee, um sich abzulenken. Mit zitternden Händen angelte sie eine Zigarette aus der Packung, die sie gestern Abend auf der Küchenbar hatte liegen lassen. Sie trank ihren Kaffee, inhalierte den Rauch der Zigarette mit gierigen Zügen und dann stand sie auf, zog ihren Morgenmantel über und öffnete die Terrassentür zum hinteren Garten. Mit Kaffeetasse und Zigarette in der Hand trat sie hinaus.
Ein frischer, kühler Morgenwind wehte ihr entgegen, aber sie bemerkte ihn nicht. Sie sah hinüber zu der Kinderschaukel, die Robert erst im letzten Sommer für Ben und Lara gebaut hatte, eine der wenigen Male, dass er wirklich etwas für die Kinder getan hatte, um ihnen eine Freude zu bereiten. Vielleicht hatte er damit auch nur sein schlechtes Gewissen beruhigt, denn sonst nahm er sich kaum Zeit für die Kleinen. Ben war fast sechs und Lara vier Jahre alt. Oft fragten sie nach ihrem Vater, und immer häufiger merkte Fiona, dass ihr langsam aber sicher die Ausreden ausgingen, um ihnen zu erklären, weshalb ihr Papa nicht zu Hause war und gerade in diesem Moment keine Zeit für sie hatte. Und natürlich bemerkten auch die Kinder, wenn er mal wieder betrunken war und seine schlechte Laune an ihrer Mutter ausließ.
Aber heute Nacht war er das erste Mal nicht nach Hause gekommen …!
Mit einem Mal brach es aus ihr heraus. Sie begann zu weinen und zu schluchzen und konnte nicht mehr damit aufhören – immer weiter – immer weiter ohne Ende. Der Garten mit seinem ersten Frühlingsgrün verschwamm vor ihren Augen in einem wahren Meer aus Tränen. So verging wohl gut eine halbe Stunde. Dann aber, ganz plötzlich und unerwartet, schien eine unsichtbare Kraft den Schleier, der über ihr hing und ihr die klare Sicht auf die Realitäten des Lebens zu verwehrten schien, wegzuziehen. Sie fühlte sich entblößt, aber auf seltsame und angenehme Weise auch befreit. Langsam wurde sie immer ruhiger, und ihr Blick klärte sich und verriet plötzlich eine Entschlossenheit, die ihr beinahe Angst machte. Mit dem nächsten Gedanken wusste sie, was zu tun war! Sie würde es jetzt ändern, hier und heute und an diesem Tag. Sie würde sich ihr Leben zurückholen, das er Tag für Tag mit Füßen getreten hatte! Und sie hatte es zugelassen, erduldet aus Feigheit vor sich selbst und aus der Angst heraus, allein könnte sie es mit den Kindern nicht schaffen. Nein – es musste nun ein für alle Mal ein Ende haben! Ihre Freundinnen hatten wohl doch Recht! Fast trotzig drängte sich dieser Gedanke in ihren Kopf. Ihre Eltern würden ihr sicher helfen. Sie hatten nie so richtig verstanden, warum ihre Tochter Fiona sich und ihren Kindern dieses Leben angetan hatte.
Kurz nach 8 Uhr war Ben aufgewacht, wenig später auch Lara. Mit einer seltsamen, fast stoischen Ruhe bereitete Fiona Kleinschmidt den Kindern ihr Frühstück. Sie konnten sich heute Zeit lassen, alle Zeit der Welt, Ben und Lara würden nicht in die Kita gehen müssen … heute und wahrscheinlich auch die nächsten Tage nicht.
Nach dem Frühstück kleidete sie zunächst die Kinder an und nahm dann eine heiße Dusche, bevor sie sich ebenfalls anzog und zurechtmachte. Ben und Lara spielten im Kinderzimmer. Während sie begann, die beiden Koffer zu packen, einen für sich und einen für die Kinder, fragte Ben:
„Fahren wir in Urlaub, Mama?“
„Ja, mein Schatz, in Urlaub, wir fahren heute zu Opa und Oma. Freust du dich?“
„Oh ja!“ strahlte Ben über das ganze Gesicht, und seine kleine Schwester fragte: „Und Papa auch?“
„Nein, Lara, Papa muss mal wieder arbeiten. Ich glaube, er hat keine Zeit, mitzukommen.“
„Hat er ja nie! Dann fahren wir eben ohne Papa“, sagte Ben trotzig und bestimmt, aber doch mit einem resignierenden Unterton in der Stimme. Und damit war die Sache geklärt.
Um 9 Uhr 30 waren die Koffer gepackt, und Fiona Kleinschmidt überlegte, ob sie ihren Mann nicht anrufen und ihm mitteilen sollte, dass sie mit den Kindern das Haus verlassen hatte und zu ihren Eltern gefahren war, dass sie endlich genug hatte von diesem Leben mit ihm und er sie nicht anrufen und in Ruhe lassen sollte. Entschlossen wählte sie die Nummer seines Handys. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bevor abgenommen wurde. Nur seltsam – niemand sagte etwas! Nur tiefes, abwartendes Schweigen und ein regelmäßiges Atmen waren am anderen Ende zu hören!
„Robert?“ fragte sie verunsichert. „Robert, bist du es? Warum sagst Du nichts?“
In der Leitung herrschte eine unheimlich anmutende Stille. Aber jemand hörte doch zu, sagte aber nichts! Sie konnte die andere Person deutlich atmen hören!
„Gut, Robert, ich wollte dir nur sagen, wenn du nach Hause kommst, sind wir nicht mehr da. Jetzt ist es vorbei, ein für alle Mal. Und rufe mich nicht an, hörst du?“
Keine Antwort! Dann plötzlich wurde die Verbindung so abrupt unterbrochen, dass sie sich erschrak und augenblicklich den Atem anhielt. Was war das? Weshalb kam keine Reaktion auf ihre Ankündigung, ihn zu verlassen? Hatte er sie etwa nicht verstanden? Oder war er zu betrunken? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen! Er musste doch im Büro sein, und dort trank er nie. Fiona Kleinschmidt starrte nun verstört und unschlüssig auf ihr Handy, bevor sie nochmals eilig die Nummer ihres Mannes wählte. Doch dieses Mal nahm niemand auf der anderen Seite ab! Nein – das war nicht typisch für ihren Mann! Er hätte reagiert, ihr lautstark die Meinung gegeigt, was ihr denn einfiele, und dass sie ohne ihn sowieso nicht alleine klarkäme. Mit einem Mal wäre ihr seine ungehaltene, schlechtgelaunte Stimme viel lieber gewesen als dieses unheimliche und nicht greifbare Schweigen!
Nach kurzem Nachdenken wählte sie Roberts Büronummer in Bonn. Aber nicht ihr Mann, sondern sein Kollege Werner Steinmetz nahm den Anruf entgegen.
„Ihr Mann ist heute Morgen nicht erschienen, Frau Kleinschmidt, was für ihn sehr ungewöhnlich ist“, grübelte Steinmetz. „Wir haben schon mehrfach versucht, ihn zu erreichen, denn für 8 Uhr war ein wichtiges Meeting angesetzt, und er hätte dringend dabei sein sollen. Aber er ging nicht ans Handy. Sie wissen auch nicht, wo er steckt?“
„Nein.“ Sie zögerte einen Augenblick, dann erklärte sie: „Er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Können Sie ihm bitte ausrichten, er soll mich sofort anrufen, falls er noch ins Büro kommt?“
„Kein Problem. Ich sage ihm Bescheid.“
Fiona Kleinschmidt legte auf. Ein Gefühl der Ungewissheit ergriff Besitz von ihr. Was war mit Robert? Wo steckte er? Warum war er nicht im Büro, wenn er schon nicht nach Hause gekommen war? Er mochte ein mieser Ehemann und ein schlechter Vater sein, aber seine Arbeit war ihm heilig. Niemals wäre er ohne einen triftigen Grund zu spät im Büro erschienen – oder etwa gar nicht! Die Ungewissheit schlug langsam in eine untergründige Angst um, die sie sich zunächst nicht erklären konnte. Sie konnte nicht greifen, was sie da gerade fühlte, nicht mit dem Kopf und schon gar nicht mit den Händen. Was war geschehen? War ihm vielleicht sogar etwas zugestoßen? Hatte er etwa einen Unfall? In diesem Augenblick bereute sie, es sich so einfach gemacht zu haben! Einfach die Koffer packen und mit den Kindern verschwinden! Es fühlte sich für sie in diesem Moment an wie Verrat, als würde plötzlich etwas Beständiges in ihrem Leben in tausend Einzelteile zerbersten und in alle Richtungen auseinanderdriften. Und sie, Fiona Kleinschmidt, versuchte ohne jede Chance auf Erfolg, alle Teile gleichzeitig wieder einzufangen, um sie wieder zu etwas zusammenzufügen, das es gar nicht mehr gab. Doch eines war ihr plötzlich klar – etwas stimmte nicht an diesem Morgen des 23. März! Etwas stimmte nicht mit ihrem Mann Robert Kleinschmidt!
Die Digitaluhr in der Küche zeigte genau 9 Uhr 48, als Fiona Kleinschmidt mit zittrigen Fingern die Notrufnummer der Polizeidienststelle wählte ….
4.
Die Firma Brunex AG in Bonn-Beuel war ein zuverlässiger und angesehener Partner der Rüstungsindustrie. Das Unternehmen wurde gerne von verantwortlichen Regierungsstellen damit beauftragt, auf offizieller Ebene Waffengeschäfte zu organisieren, die entsprechenden Verträge auszuhandeln und schließlich die genehmigten Waffenlieferungen