Du bist ok, so wie du bist. Katharina SaalfrankЧитать онлайн книгу.
Statt Persönlichkeiten wollen wir das optimierte Musterkind.
Und so werden Eltern verunsichert und fragen sich: Ist mein Kind in Ordnung? Zeigt es »normales« Verhalten? Ein wenig so, als sei eine Krankheit im Umlauf, die unsere Kinder mehr oder weniger zufällig befallen könnte. Als habe niemand und nichts Einfluss auf diese Entwicklung unserer Kinder und als stünde das Verhalten von Kindern in keinem familiären oder gesellschaftlichen Zusammenhang.
»Dass Entwicklung vielfältig und individuell und trotzdem noch natürlich sein kann, findet in den Rastern und Tabellen kaum Platz.«
Natürlich ist es einfacher und mit weniger Aufwand verbunden, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen und zu sagen: Du, Kind, bist nicht in Ordnung, mit dir stimmt etwas nicht! Es ist auch deshalb bequem, weil die Erwachsenen dann Verantwortung abgeben können und nicht auf sich selbst schauen müssen und fragen: Welchen Anteil tragen wir selbst vielleicht daran, dass ein Kind sich so oder so verhält? Stattdessen wird das Verhalten der Kinder problematisiert und pathologisiert. Es ist bequem und entlastend für uns, zu sagen: Das ist nicht normal! Was wir damit eigentlich meinen: Das Kind ist nicht normal – es verhält sich nicht normgerecht! Es fällt auf und raus aus unserem Raster für das, was wir als »normal« empfinden.
Entwicklungsgerechtes Verhalten falsch interpretiert
Es geht hier nicht darum, den Spieß umzudrehen und Eltern und Erziehenden »Schuld« zuzuschieben. Es geht um VERANTWORTUNG. Und darum, zunächst unsere eigenen Denk- und Verhaltensmuster aufzudecken und zu verstehen, welche Wirkung sie auf uns und unsere Kinder haben.
Es entsteht ein Zerrbild, und es ist ein Missverständnis, wenn wir denken, dass wir keine Verantwortung tragen! Denn unser UMGANG mit einem Kind und auch die von uns bereitgestellte UMWELT haben großen Einfluss auf das Kind und seine Entwicklung. Es verhält sich immer der Umwelt entsprechend, deshalb können wir Kinder und ihr Verhalten nicht ohne den GESAMTZUSAMMENHANG betrachten.
Hinzu kommt – wie schon erwähnt –, dass wesentliche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie – über bestimmte Verhaltensweisen, die zu einer notwendigen und gesunden Gesamtentwicklung von Kindern gehören – bisher nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind. Ein tiefes Tal der Zusammenhanglosigkeit liegt zwischen den Erkenntnissen von Erziehungswissenschaft, empirischer Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie und aktueller Hirnforschung einerseits und angewandter praktischer Pädagogik in Familien und staatlichen Institutionen andererseits. Diese Tatsache hat zu einem gewaltigen gesellschaftlichen Innovationsstau geführt. Jene Wissenschaften, die sich mit der Entwicklung und dem Wachstum des Menschen beschäftigen, scheinen jeweils ein Eigenleben zu führen, anstatt gemeinsam in eine Richtung zu wirken. Daher finden die Erkenntnisse der einzelnen Disziplinen kaum Wege in die praktische Anwendung. Kein Wunder also, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern immer wieder falsch bewertet wird. Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis:
Wir haben ein Problem mit unserem vierjährigen Sohn Linus. Er besucht seit zwei Jahren die Kita in unserem Ort. Gestern hat mich die Erzieherin angesprochen und mir mitgeteilt, dass unser Sohn aus der Gruppe ausgeschlossen werden müsse. Der Grund dafür: Linus sei aggressiv und habe sich nicht unter Kontrolle. Er gehe auf andere Kinder los und störe so die Gruppe und den Ablauf bei gemeinsamen Aktivitäten.
Wir wissen, dass Linus sich manchmal ärgert. Vor ein paar Monaten kam es zum Streit mit seinem besten Freund. Dabei ist er gestürzt und hat sich selbst in der folgenden Rangelei die Nase aufgeschlagen, was ihn wohl sehr wütend gemacht hat. Denn dann gab es mit einem anderen Jungen Ärger, sie haben sich gestritten und am Boden gebalgt. Die Mütter dieser beiden Jungen finden das nicht toll, das ist klar. Würde ich auch nicht. Allerdings sind es andere Mütter aus der Gruppe, die jetzt für Aufruhr sorgen. Ich will unseren Sohn nicht in den Himmel loben, aber er ist ein herzensguter, lustiger kleiner Mensch. Das sagt selbst die Erzieherin. Es ist alles so widersprüchlich. Aber wie bekommt man das aus ihm raus? Die Erzieherin meinte, wir müssen die Aggression aus ihm rausbekommen, sonst habe er in der Schule später nur Probleme. Und die geht ja auch schon bald los. Haben Sie einen Tipp, was wir machen können? Ich bin so ratlos und mache mir große Sorgen. Das macht mich alles so fertig.
Linus’ Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern etwa von Erziehern nicht erkannt wird und deshalb nicht konstruktiv darauf reagiert werden kann. Deutlich wird hier die Haltung der Erwachsenen: Diese Gefühle darf ein Kind nicht haben; und wenn doch, dann nicht hier! Sein Verhalten ist nicht erwünscht, und das Kind wird ausgegrenzt.
Allerdings: Durch sein Verhalten fällt Linus zwar in dieser Gruppe auf, es ist aber keineswegs unnormal! Im Gegenteil. Linus macht hier wichtige Erfahrungen mit starken Emotionen. Er streitet sich, wird wütend und zeigt seine Aggression.
In der Erziehung spielten noch vor zirka 70 Jahren Gefühle kaum eine Rolle. Sie wurden in der Regel unterdrückt. Heute wissen wir, dass Menschen hierdurch in ihrer emotionalen Entwicklung gehemmt werden und in der Folge Störungen entwickeln können.
Kindern ihre Gefühle lassen
Langjährige Entwicklungsforschung hat gezeigt und Praxiserfahrungen aus der Therapie haben ergeben, wie wesentlich es für uns Menschen ist, dass wir unsere Gefühle wahrnehmen und einen Zugang zu ihnen entwickeln können. Dabei geht es nicht nur um positive Gefühle wie Freude, Begeisterung und die Fähigkeit, Glück zu empfinden. Es geht darum, die gesamte Bandbreite und vielfältige Palette von Gefühlen kennenzulernen. Wir brauchen also auch Erfahrungen mit den sogenannten negativen Gefühlen: Trauer, Enttäuschung, Schmerz, Wut, Aggression. Es ist wichtig, dass wir sie erfahren, dass wir sie verbalisieren und sie ausdrücken können.
Vielfältige wissenschaftliche Studien belegen, dass das Verleugnen und Wegdrücken von Gefühlen den Menschen krank macht. Aber Menschen können Aggressionen doch nicht einfach ungefiltert ausagieren, wird der eine oder andere einwenden. Der Begriff »Aggression« ist von dem lateinischen Wort für »herangehen, angreifen« abgeleitet. Aggressionen an sich sind wichtig, sie bringen uns zu Hochleistungen, etwa im Sport. Wer beispielsweise bei den Olympischen Spielen die Sportler in Zeitlupenwiedergabe genau beobachtet, kann erkennen, wie sich Aggressivität in den Gesichtern spiegelt und in Energie verwandelt, die den Athleten nach vorn bringt. Dass aggressives Verhalten von Kindern häufig falsch interpretiert wird, liegt an folgenden Gedanken:
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Aggressivität führe unweigerlich zu Gewalt. Deshalb meint man, Kinder sollten schon frühzeitig lernen, Konflikte ausschließlich verbal zu klären. Dies bedeutet für sie jedoch häufig eine absolute Überforderung. Für eine solche Konfliktlösung müssten sie sehr früh schon eine intellektuelle Leistung erbringen, die oft auch uns Erwachsenen schwerfällt.
Wir denken und handeln so jedoch nur aus der absurden Befürchtung, dass aus einem aggressiven vierjährigen Jungen zwangsläufig ein gewalttätiger Jugendlicher wird. Die Kausalkette so zu knüpfen beruht auf einem Fehlschluss. Denn nicht aggressives Verhalten in der Kindheit ist ursächlich für spätere Gewalttätigkeit von Jugendlichen. Vielmehr, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, haben gewalttätige Jugendliche fast ausnahmslos in ihren Familien psychische oder physische Gewalt erfahren und waren häufig selbst Opfer.
Emotionen in ihrer ganzen Bandbreite anerkennen
Es gibt nicht nur eine Angst oder die Aggression. Gefühle treten in vielen Abstufungen und Färbungen auf. Unsere Gefühlswelt ist komplex, und jedes Gefühl hat verschiedene Facetten. Es gilt, alle Emotionen im Laufe der Zeit kennenzulernen, Erfahrungen im Umgang mit ihnen zu sammeln und sie letztendlich sämtlich in uns zu integrieren. Dieser Prozess beansprucht rund sechzehn bis siebzehn Jahre – dauert also bis zur Pubertät – und gehört zur normalen seelisch-emotionalen Entwicklung von Kindern.
Linus macht also wesentliche Erfahrungen in seiner emotionalen Entwicklung. Doch anstatt ihn sich auch körperlich auseinandersetzen zu lassen, ihn kindgerecht beim Umgang mit Konflikten zu unterstützen und in seiner Entwicklung zu begleiten, wird das unerwünschte Verhalten weggedrückt, und das störende Kind soll die Gruppe verlassen.