Krimi Jahresband 2020 - 11 Spannungsromane in einem Band!. Frank RehfeldЧитать онлайн книгу.
nämlich umbringen.“
„Was berechtigt Sie denn zu dieser Befürchtung?“, fragte Bount.
„Das lässt sich schwer in Worte fassen, Mister Reiniger“, gab der Anrufer zu. „Auf jeden Fall ist es mehr als nur eine Ahnung. In den letzten drei Tagen entging ich zweimal nur knapp dem Tod. Am Sonntag geriet ich um ein Haar unter einen Wagen. Der Fahrer raste davon, ohne dass ich ihn erkennen konnte. Heute wurde auf mich geschossen. Zum Glück verfehlte mich die Kugel, wenn auch nur sehr knapp.“
„Und der Schütze verschwand ungesehen?“
„So ist es. Ich nahm gerade ein Bad im Fluss. Deshalb konnte ich ihm nicht schnell genug folgen. Ich hörte ihn aber in scharfem Galopp davonreiten.“
Bount staunte.
„Er kam zu Pferde?“
„Ich vergaß zu erwähnen, dass ich nicht von New York aus anrufe. Mein Name ist James Stanley. Ich bin Rancher. Genau genommen war ich es. Ich habe meinen gesamten Viehbestand verkauft und werde auch den Grund mit den Gebäuden veräußern. Der Erlös für die Herden scheint mir das Motiv für die Anschläge auf mein Leben zu sein. Der Mörder ist hinter dem Geld her. Es handelt sich um annähernd zwei Millionen Dollar.“
Bount pfiff durch die Zähne.
„Aber das Geld haben Sie doch vermutlich nicht unter der Matratze versteckt“, meinte er.
„Bevor Sie weitere Möglichkeiten durchchecken“, unterbrach ihn der Rancher, „will ich Ihnen gleich sagen, dass ich all diese Einzelheiten auf keinen Fall am Telefon erörtern kann. So ein Gespräch kann von jedem mitgehört werden. Das ist mir zu gefährlich. Ich bin sicher, dass man einen Killer auf mich angesetzt hat. Einen eiskalten Profi, gegen den ich keine Chance habe. Deshalb setze ich meine Hoffnungen auf Sie, Mister Reiniger. Sie sollen auch schon Fälle außerhalb New Yorks angenommen haben. Deshalb werden Sie mich hoffentlich nicht im Stich lassen.“
„Können Sie es einrichten, herzukommen?“
Stanley lehnte ab.
„Mir wäre es lieber, wenn Sie zu mir kämen. Sie könnten an Ort und Stelle die Leute in Augenschein nehmen, mit denen ich zu tun habe. Es ist ein schreckliches Gefühl zu wissen, dass einer von ihnen ein Mörder ist.“
Bount überlegte kurz. Er bearbeitete zwar zur Zeit mehrere Fälle, doch keiner war so wichtig, dass er nicht eine Unterbrechung von zwei, drei Tagen vertragen hätte. Momentan beschäftigte er sich hauptsächlich mit dem Studium von Zeitungen und Akten, und das konnte June auch ohne ihn erledigen. Sie wusste, worauf es ankam.
„Wo finde ich Sie, Mister Stanley?“, erkundigte er sich.
Bount hörte förmlich das erleichterte Aufatmen.
„Ich erwarte Sie am Flughafen von Alamogordo. Wissen Sie, wo das ist?“
„New Mexico, wenn mich meine heimatkundlichen Kenntnisse nicht im Stich lassen. Meines Wissens gibt es fruchtbarere Gegenden für eine Ranch.“
„Warten Sie’s ab! Sie werden staunen. Ich darf also mit Ihnen rechnen?“
„Wenn Sie mit meinen Konditionen einverstanden sind.“
„Ich bin nicht kleinlich, wenn es um mein Leben geht“, versicherte der Rancher. „Wann können Sie fliegen?“
„Praktisch sofort. Es hängt vom Flugplan ab.“
„Darum habe ich mich schon gekümmert. Sie könnten morgen Mittag um ein Uhr zwölf hier sein.“
„Dann gehen Sie davon aus, Mister Stanley. Wie erkenne ich Sie?“
„Ich lasse Sie ausrufen.“
„Dann wäre also alles klar. Passen Sie auf sich auf, und gehen Sie möglichst wenig auf die Straße.“
„Darauf können Sie sich verlassen. Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, mir zu helfen. Jetzt ist mir schon wesentlich wohler.“
Bount legte den Hörer zurück.
June kehrte zurück und warf mit gekonntem Schwung einen Packen Zeitungen auf seinen Schreibtisch.
„Viel Spass bei der spannenden Lektüre“, wünschte sie mit abgefeimtem Lächeln.
„Der Spass liegt ganz auf deiner Seite, June“, gab Bount ungerührt zurück. „Du darfst dich nämlich allein da durchwühlen.“
Er berichtete, dass er am nächsten Morgen nach New Mexico fliegen würde, was June zu einem Schmollen veranlasste.
„Und mich nimmst du natürlich wieder mal nicht mit. Die spannenden Sachen erledigt natürlich der große Boss allein. Wann wirst du zurück sein?“
„Kann ich noch nicht sagen. Jedenfalls brauchst du mit der Arbeit nicht auf mich zu warten.“
4
Mabel Taylor sah ihre Mutter ungläubig an.
„Du machst dich über mich lustig, Mam“, sagte sie kopfschüttelnd. „Ich kenne keinen Mister Stanley. Wie käme also ein wildfremder Mensch dazu, mich in seinem Testament zu bedenken?“
Gladys Taylor deutete auf das Schriftstück in ihrer Hand.
„Aus dem Schreiben geht hervor“, erklärte sie, „dass James Stanley ein Vetter deines Vaters war. Du bist seine einzige, wenn auch nur entfernte Verwandte und erbst demzufolge sein gesamtes Vermögen.“
„Vermögen! Kannst du dir einen von Dads Verwandten vorstellen, der ein Vermögen zu vererben hat?“ Das schwarzhaarige, grazile Mädchen ließ seine dunklen Augen aufblitzen. „Warum war dieser Vetter denn nicht da, als Dad Hilfe brauchte?“
„Das weiß ich nicht, und darauf werden wir wahrscheinlich auch nie eine Antwort erhalten. Vielleicht waren die beiden verfeindet. Dein Vater hat nie über James gesprochen. Ich hatte selbst keine Ahnung von dessen Existenz.“
Sie betrachtete sinnend die beiden Flugtickets, die dem Brief vom Notar beilagen.
„Das sieht nicht danach aus, als würde sich jemand einen Spass mit uns erlauben. Uns entstehen keinerlei Reisekosten, zumal wir auf der Ranch untergebracht werden, bis die Formalitäten erledigt sind.“
Das hatte etwas für sich. Mabel sah auch keinen Sinn darin, ein paar hundert Dollar für einen geschmacklosen Witz auszugeben. Die Tickets waren echt.
„Woran ist dieser Stanley eigentlich gestorben?“, wollte sie wissen.
Ihre Mutter, eine zweiundvierzigjährige Frau mit weichen Formen, hob die Schultern.
„Davon steht nichts hier. Es ist lediglich von rätselhaften Umständen die Rede.“
„Merkwürdig. Genau wie bei Dad.“
„Wie meinst du das?“ Gladys Taylor wurde überraschend heftig.
Mabel zuckte erschrocken zusammen. Sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie hatte dieses Thema nie anschneiden wollen. Zu genau erinnerte sie sich noch die häufigen Polizeibesuche im elterlichen Haus, nachdem man den Leichnam ihres Vaters vor über einem Jahr aus dem Lake Payette geborgen hatte. Sie überhörte die Frage, um unerfreuliche Diskussionen zu vermeiden. Ihr Vater war tot. Der Lieutenant hatte die Akte mit der Begründung geschlossen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Selbstmord wegen finanzieller Schwierigkeiten gehandelt habe. Fremdverschulden könne nicht nachgewiesen werden.
An den Schwierigkeiten hatte sich seitdem nichts geändert. Dad war tot, nur die Schulden, die er hinterlassen hatte, mussten bezahlt werden. Dank beachtlicher Zinssätze gediehen sie prächtig. Eine Erbschaft käme da wie gerufen.
Mabel streckte die Hand nach dem Brief aus. Sie las ihn noch einmal Zeile für Zeile, wurde dadurch aber nicht klüger. Notar G. F. Borner war ihr kein Begriff. In Arizona war sie auch noch nie