Der Elternkompass. Nicola SchmidtЧитать онлайн книгу.
kamen – erfahrenen Müttern, Hebammen, einer Kinderärztin –, probierte ich es aus.
Man hatte mir als Lohn ein »braves Baby« versprochen. Doch was ich bekam, war das Gegenteil. Aus meinem bisher zufriedenen, friedlichen Säugling wurde durch diese Maßnahmen ein schreiendes, verzweifeltes Bündel. Mein Sohn wollte offenkundig weder allein schlafen noch auf sein Essen warten – noch ständig von mir getrennt werden. Statt ein »einfaches« Baby bekam ich ein nervöses Kind, das schlecht schlief, sich beim Stillen vor Hunger verschluckte und jedes Mal auszuflippen schien, wenn ich den Raum verließ. Als ich die vermeintlichen Experten darauf ansprach, erklärte man mir, dass ich daran aber nun wirklich selbst schuld sei – schließlich hätte ich ihn in den ersten zwei Monaten ja total verwöhnt und schon völlig verzogen. Jetzt müsse ich das Geschrei aushalten, bis er wieder gelernt hätte, wie die Welt »richtig« funktionierte.
Ich bin von Natur aus stur und scherte mich nicht drum. Ich machte es zu Hause heimlich so, wie ich es für richtig hielt, aber ich fühlte mich ständig schuldig, und zwar im doppelten Sinne: zum einen meinem Kind gegenüber, weil ich diesen Erziehungsquatsch überhaupt – wenn auch nur kurz – ausprobiert hatte, und zum anderen den »Experten« gegenüber, deren Weisheiten ich frech ignorierte, obwohl ich doch »nur« Mutter war. Zudem war ich schrecklich allein. In Mütterkreisen wurde ich mit meinem getragenen, bei mir schlafenden, nach Bedarf gestillten Baby schräg angesehen: Was erlaubte ich mir, all die erprobten Ratschläge infrage zu stellen? Ausgerechnet ich, die ich doch gar keine Ahnung hatte?
Leider konnte ich gleichzeitig nicht behaupten, dass es mir besser ging als anderen Müttern. Ich schien fürs Muttersein nicht wirklich gut gerüstet zu sein – eine besonders talentierte Vollzeitmutter war ich jedenfalls nicht. Ich fand es überhaupt nicht einfach, den ganzen Tag mit einem Säugling zu verbringen, völlig fremdgesteuert durch seine Bedürfnisse, seine Windeln, seinen Schlaf- und Essensrhythmus. Genau so schwer fiel es mir aber, ihn weinend an Papa, Tante oder einen Babysitter abzugeben, um mich zu »entspannen«. Es war für mich kein bisschen entspannend zu sehen, wenn es ihm dabei ganz offensichtlich nicht gut ging.
Und so war es dann mit der Coolness auch nicht weit her: Sobald ich eine Weile von ihm getrennt war, überkam mich das fast panische Bedürfnis, möglichst schnell zurück zu meinem Kind zu kommen und zu sehen, wie es ihm ging. Monatelang schwankte ich zwischen überforderter Langeweile und dem Bedürfnis nach ständigem Kontakt mit meinem Baby.
Es gab nur einen Menschen, der für meinen Zustand Verständnis hatte: meine Mutter. Trotz allem, was sie selbst erlebt hatte, war sie die Einzige, die mein Baby niemals »erziehen« wollte, sondern mit ihm sang, es wiegte und immer zu mir brachte, wenn es nach mir verlangte. Kein Wunder, dass sie der einzige Mensch war, bei dem mein Kleiner klaglos und freudig blieb.
Und dennoch: Egal, was ich tat, alle, der Mann, das Kind und ich, schienen ständig zu kurz zu kommen.
Gleichzeitig ging es dem Kind überraschenderweise hervorragend. Während meine Kinderärztin bei jeder Pflichtuntersuchung vor Begeisterung überschäumte, weil es sich so gut entwickelte, wach und gesund war, reagierte sie entsetzt, wenn sie hörte, wie ich mich von ihm »tyrannisieren« ließ.
Niemand hindert uns daran, mit unserem Kind so umzugehen, wie es sich für uns alle gut anfühlt.
Eines Abends saß ich weinend neben meiner Mutter auf dem Sofa: »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!« Ruhig fragte sie zurück: »Was willst du denn tun? Was willst denn du?« Oh, das wusste ich genau: Ich wollte mein Kind bei mir haben, es herumtragen und mit ihm spielen. Ich wollte es stillen, wenn es Hunger hatte, es nachts an meiner Seite wissen und arbeiten, ohne mich von dem kleinen Wurm trennen zu müssen. Ich wollte meinem Kind nicht auf die Finger hauen, wenn es »unartig« war, ich wollte nicht ständig »Nein, lass das!« rufen, und ich wollte es nicht allein schlafen lassen, wenn es ohne mich Angst hatte.
»Und wer hindert dich daran?«, fragte meine Mutter. Da machte es klick bei mir. Sie hatte recht. Wer hinderte mich eigentlich daran? Mich hinderte meine Angst, etwas falsch zu machen. Mich hinderte meine Isolation, das Gefühl, dass nur ich allein es nicht so machen wollte, wie »man« es machte. Mich hinderten all die versteckten Drohungen, einen kleinen »Tyrannen« großzuziehen, das Kind zu überfüttern oder seinem Rücken zu schaden. Mich hinderten die Aussagen, dass das Kind nie auf dem Arbeitsmarkt einer globalisierten Welt bestehen könne, wenn es nicht spätestens mit anderthalb Jahren von einer Fachkraft gefördert würde.
GESICHERTE FAKTEN STATT ERZIEHUNGSMÄRCHEN
Aber was war davon wahr? Was war »richtig«? Wer wusste denn, was richtig war? Die Empfehlungen, die ich als Mutter bekam, waren oft widersprüchlich und widersinnig. Selbst Kinderarzt und Hebamme schienen sich nicht einig zu sein, was richtig für ein kleines Menschenkind ist. Und je älter dieses Menschenkind wurde, desto chaotischer wurden die Meinungen, die mir um die Ohren flogen.
In meiner Ratlosigkeit tat ich das, was ich gelernt hatte: Ich fing an zu recherchieren. Ich bin ja keine Pädagogin, doch ich habe als Wissenschaftsjournalistin jahrelang für Zeitschriften gearbeitet, als Sozialwissenschaftlerin mein Diplom gemacht – mit Bibliotheken, Studien und Forschern kenne ich mich also bestens aus. Was ich wollte, waren eindeutige Antworten und Klarheit. Ich hörte auf, Erziehungsratgeber zu lesen, und vertiefte mich stattdessen in Studien. Ich begann im Internet, ging dann in Universitätsbibliotheken, und schließlich flogen mein Mann, das mittlerweile zum Kleinkind herangewachsene Baby und ich in die USA, um einige der Wissenschaftler hinter den Studien persönlich zu treffen und mit ihnen zu sprechen.
Je mehr ich las, desto erstaunter war ich: Vieles von dem Wissen, das die Forscher längst als bestätigt und sicher ansahen, hatte es offenbar nie bis in die Praxen der Kinderärzte oder den Alltag vieler Hebammen geschafft, geschweige denn bis zu all den wohlmeinenden Menschen, die mich mit ihren Ratschlägen überschütteten.
Mein Lieblingsbeispiel ist die immer noch grassierende Angst, einen Säugling zu verwöhnen. Sie stammt aus einem Erziehungshandbuch aus den Dreißigerjahren,1 in dem man Eltern davor warnte, kleine »Haustyrannen« großzuziehen. Keine Studie hat das je bestätigt, alle Befunde weisen darauf hin, dass Menschen, die ausreichend Liebe, Wärme und Zuwendung bekommen, sich prächtig entwickeln und genau die drei Engel ausbilden, von denen schon die Rede war: ein stabiles Stresssystem, Selbstwertgefühl und Resilienz. Und die Forschung hat unzählige Belege dafür, dass die »nicht verwöhnten« Säuglinge stattdessen an Körper und Seele krank werden.
Je tiefer ich bohrte, desto erstaunter wurde ich. Offenbar war es kein Zufall, dass manche Kinder entspannt, stressresistent und gut in der Schule waren, dass manche sich besser beruhigen ließen als andere, besser schliefen oder weniger krank waren. Ja, sogar dass sie später weniger an Altersleiden erkrankten, bessere Beziehungen führten oder Schicksalsschläge leichter wegstecken konnten – das war alles kein Zufall! Doch was steckte dahinter? Welche Erziehung war das Geheimnis ihrer Stärke und Gesundheit, ihres Selbstvertrauens und ihrer Liebesfähigkeit? Ich wollte es wissen, und zwar genau. Ich wollte herausfinden, was die Eltern dieser Kinder richtig machten – und stellte fest, dass das alles gut erforscht ist.
Das Konzept von Lob und Strafe speist sich eher aus dem Tiertraining als aus der aktuellen Lernwissenschaft.
Doch warum hatten es diese Forschungsarbeiten nie in den »Mainstream« geschafft? Erstens schreien Säuglinge mehr, wenn man sie mehr schreien lässt – und kränker werden sie dadurch auch. Und zweitens war das Märchen von der »Alles-ist-möglich«-Lüge,2 das mir sagte, ich könnte alles haben – Kinder, Karriere und eine großartige Beziehung –, genau das: ein Märchen. Alle ethnologischen, anthropologischen, pädagogischen und medizinischen Befunde zeigten mir: Nein, es war nie einfach, Kinder großzuziehen, es wird nie einfach sein, und wir können immer nur unser Bestes geben.
Ich hatte sicher mein Bestes gegeben. Doch auch für mich war es ein Schock, als mir klar wurde, dass ich trotz meiner ablehnenden Haltung den unsinnigsten Empfehlungen gegenüber (»Schreien stärkt die Lunge«, »Betreuung ab zwölf Wochen« und »Immer schön den Teller leer essen!«) schon in den ersten zwei Jahren mit meinem Kind