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Der Elternkompass. Nicola SchmidtЧитать онлайн книгу.

Der Elternkompass - Nicola Schmidt


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– auch nicht meine Hebamme – erkannt, geschweige denn behandelt hatte. Dass junge Schwangere nächtelang weinen, ist ja normal, da reißt man sich einfach mal zusammen, oder? Ich war dem Weinen meines Säuglings hilflos ausgeliefert gewesen, und statt ihn mit ruhigem Atem zu koregulieren (zu beruhigen), wie es nachweislich hilfreich ist, hatte ich Stunden hektisch wippend auf dem Pezzi-Ball verbracht und dabei den Stresshormonpegel eines Hochleistungssportlers auf mein Kind übertragen.

      Aber warum hatte mir das niemand vorher gesagt?

      Mir wurde klar: Ich wollte weg von Tradition und Glauben, von Ammenmärchen und Unwissenheit hin zu Fakten – am besten zu doppelblind randomisiert ermittelten Tatsachen, also zu Ergebnissen von Studien, bei denen weder die Versuchsleiter noch die Studienteilnehmer Kenntnis über ihre jeweilige Gruppenzugehörigkeit (Kontroll- oder Experimentalgruppe) hatten.

      Sprechen wir deshalb in diesem Buch von der »Randomisierung der Erziehungskunst«. Wir schauen uns an, was man belegen kann, und lassen alles links liegen, was zwar »Common Sense« ist, sich aber nicht beweisen lässt.

      WORAN ERKENNE ICH EINE SERIÖSE STUDIE?

      »Trau keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast« – das hören wir oft, und es stimmt: Jedes Experiment, jede Studie sollten wir kritisch ansehen. Denn, um es mit dem römischen Philosophen Seneca (ca. 1–66 n. Chr.) zu sagen: »Es ist gleich falsch, allen oder keinem zu trauen.« Aber es gibt durchaus verlässliche Kriterien, die uns helfen, Ergebnisse richtig einzuschätzen.

      Was wir in vielen Büchern, Blogbeiträgen, Interviews und so fort lesen, ist wie gesagt vor allem Ansichtssache. Daher finden wir bei einer einfachen Suche im Internet auch immer vermeintliche »Belege« für alles Mögliche, aber bei näherem Hinschauen entpuppen sich diese Texte als reine Meinungen. Das trifft auch auf viele Erziehungsratgeber zu, in denen jemand zu Papier gebracht hat, was er oder sie »meint«, es sei richtig für unsere Kinder. Hier gilt es, besonders vorsichtig zu sein: Was für mein Kind funktioniert, muss längst nicht für alle gelten – und umgekehrt.

       Der aktuelle »Goldstandard« unter den Interventionsstudien sind die randomisierten kontrollierten Studien.

      Die erste Sorte von »echten Studien« sind Beobachtungsstudien (deskriptive Studien). Sie stellen zum Beispiel fest, dass während des Beginns der Corona-Epidemie im Jahr 2020 deutlich weniger Frühgeburten auf die Welt kommen als vorher,3 regen die Diskussion an, sagen aber noch nichts über die Ursachen aus. Oft sind sie ein interessanter Ansatzpunkt, der jetzt überprüft werden kann, aber genau so oft muss man die Thesen verwerfen – das gehört zur Wissenschaft dazu. Ich benutze Beobachtungsstudien, um einen Denkanstoß zu bekommen, über den Tellerrand zu schauen oder um kleine Fallbeispiele zu nennen. Andere Beobachtungsstudien fragen schon nach der Ursache. Sie vergleichen Gruppen von Menschen miteinander (beispielsweise Schwangere, die Folsäure genommen haben, und solche, die sie nicht genommen haben) oder befragen Leute einmal oder mehrmals zu bestimmten Themen (Querschnitts- und Längsschnittstudien).

      Die zweite Sorte von »echten Studien« sind die Interventionsstudien. Der aktuelle »Goldstandard« besonders für Medikamente oder seltene Krankheiten sind die randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trial oder RCT). Hier teilen Forscher eine Gruppe per Zufall in zwei Hälften und vergleichen sie dann nach einer sogenannten »Intervention« (das kann ein Medikament sein, ein Training oder dergleichen). Wenn es etwa um die Wirksamkeit eines Empathietrainings geht, würde man beobachten, wie zum Beispiel die Gruppe mit Empathietraining (die Interventionsgruppe) und die zweite Gruppe ohne Training (oder beispielsweise mit Yoga statt des Empathietrainings) am Ende in einem Test abschneidet. So wollen Forscher feststellen, wie das Medikament oder das Training wirkt.

      Dieses Beispiel zeigt aber auch schon, dass es oft schwer ist, so etwas im Familienkontext durchzuführen: Man kann (werdende) Mütter nicht willkürlich einer Still- oder einer Nichtstillgruppe zuordnen, da das ihre persönliche Entscheidung bleiben muss. In solchen Fällen können Forscher also nur rückblickend versuchen herauszufinden, was beispielsweise die stillenden von den nichtstillenden Müttern unterscheidet. Dabei versuchen sie oft, mathematisch andere Faktoren herauszurechnen, zum Beispiel den Einfluss von Bildungsgrad oder Alter.

      Wenn die Kinder größer sind, geht es wieder besser: Man kann zum Beispiel problemlos die eine Schulklasse Hausaufgaben machen lassen und die andere nicht und dann die Testergebnisse vergleichen (die Ergebnisse sind erstaunlich – ich berichte weiter hinten im Buch davon). Dennoch sollten wir uns hier nicht blenden lassen: Forscher haben in einer groß angelegten Übersichtsstudie 2014 festgestellt, dass gut gemachte Beobachtungsstudien im Vergleich zu randomisierten kontrollierten Studien in der Regel gut abschneiden und keinen signifikanten Unterschied aufweisen.4

      Und das waren nicht irgendwelche Forscher, sondern die renommierte Cochrane Collaboration, ein Zusammenschluss aus Wissenschaftlern, Ärzten, Fachleuten und Patienten, die sich mit der Vorgehensweise von klinischen Studien beschäftigt und die evidenzbasierte Medizin mitentwickelt haben, die danach fragt, was nachweislich wirklich hilft (lat. evidens [offenkundig, klar ersichtlich, überzeugend]).

      In diesem Buch werde ich einzelne Studien immer wieder als Beispiele heranziehen, aber hauptsächlich interessiere ich mich für Reviews, also Übersichtsarbeiten. In einem Review sammeln Wissenschaftler alle Studien, die sie zu einem Thema finden können, sortieren sie in »brauchbar« oder »nicht brauchbar« und analysieren dann die Ergebnisse. Das hat den Vorteil, dass viele Studien von unterschiedlichen Kollegen einfließen, die unter Umständen auch unterschiedliche Meinungen haben und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In solchen Übersichten werden in der Regel außerdem nur Studien berücksichtigt, die durch das sogenannte »Peer-Review-Verfahren« geprüft wurden: Alle großen wissenschaftlichen Zeitschriften leisten sich den Luxus, Studien durch unabhängige Gutachter*innen aus dem gleichen Fachgebiet noch einmal gegenlesen zu lassen: Lohnt es sich, das zu veröffentlichen? Ist das belastbar? Auch dieses Verfahren ist nicht perfekt, und auch diesen Gutachter*innen geht mal etwas durch die Lappen, aber das Peer-Review-Verfahren verbessert die Qualität von Publikationen deutlich.

       Auch seriöse Studien sollten mit gesundem Menschenverstand rezipiert werden. Wichtig sind vor allem die Fragen nach dem Aufbau, der Klarheit der Ergebnisse und dem Auftraggeber beziehungsweise Sponsor.

      Wir sollten also immer fragen: Wer hat die Studie in Auftrag gegeben oder finanziert? Wie ist die Studie aufgebaut, und welche Frage stellt sie überhaupt. (Wie definiert man ein Schlafproblem?) Wie groß ist die Stichprobe? Gibt es eine Kontrollgruppe? Und nicht zuletzt: Wie klar oder vage sind die Ergebnisse?

      Was die Presse dann daraus macht, ist noch mal eine andere Geschichte: Ein Satz wie »Man kann nicht nachweisen, ob es einen Säugling schädigt, wenn man ihn schreien lässt« wird leider nur allzu schnell zu der Schlagzeile »Schreienlassen schädigt Babys nicht« – was ja nicht dasselbe ist.

      Gleichzeitig hat jede Studie auch ihre Schwächen, und wir kommen nie umhin, als mündige Bürger unseren gesunden Menschenverstand einzuschalten: Ein Test beispielsweise, bei dem Vierjährige fünfzehn Minuten mit einem Marshmallow allein gelassen werden und ihn nicht essen sollen, liefert nur sinnvolle Ergebnisse, wenn zum Beispiel alle Kinder gleich gern Schaumzuckerware essen und gerade gleich viel Hunger haben …

      Kinder sind Hoffnung, sagt man. Und es heißt auch: Es ist nie zu spät für eine schöne Kindheit. Beides stimmt. Menschen haben ein sehr plastisches Gehirn, und die Forschung stellt immer wieder erstaunt fest, dass es viel wandelbarer ist, als wir je dachten. Das menschliche Gehirn ist unser ganzes Leben lang formbar, und das nicht nur auf lange Sicht: Es passt sich in jeder Minute an die äußeren Bedingungen an, also an kognitive, soziale und körperliche Reize. Es stellt dabei laufend neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen her. Was für ein tröstlicher Gedanke! Egal, wie unsere Kindheit war – wir haben unser Leben selbst in der Hand.

      Wenn Sie genau jetzt fünfmal ruhig ein- und ausatmen, verändert sich schon etwas! Und wenn wir mit der aktuellen Forschungslage davon ausgehen, dass der Mensch an sich gut ist, finden Sie in diesem Buch noch viel mehr Rädchen, an denen wir


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