Sie senden den Wandel. Viviana UrionaЧитать онлайн книгу.
rel="nofollow" href="#ulink_44d81335-5c3c-532e-a875-842169bfe49d">6, die in Argentinien geführt wurde, endete im Dezember des Jahres 2009 für viele Beobachter*innen völlig überraschend mit einem Bundesgesetz, das nicht weniger als einen radikalen7 Umbruch der Medienlandschaft bedeutete. Staatliche Medien (öffentlich-rechtliche8) und gewinnorientierte (private) Medien sollten sich nun damit abfinden müssen, dass neben ihnen eine dritte Säule, eine dritte Art von Medien gleichberechtigt existieren würde und – das ist das Besondere – ein Drittel aller Sendeplätze und Frequenzen verlangen und zu ihrer Verwendung vom Staat die notwendigen materiellen Mittel fordern könnten. Diese dritte Medienart wird durch das neue Gesetz: private9 (aber) nicht gewinnorientierte Medien genannt.
Das Gesetz musste sich diese Gruppe der Medien nicht erst ausdenken. Diese Art der Medien existierte bereits. Ihre wirkmächtigste Form waren m.E. die Community-Radios. Aber auch andere Radios der dritten Art, erste Stadtteil- Fernsehsender und natürlich auch Zeitungen und Magazine10 dieser Art von Medien waren schon vor Inkrafttreten des Gesetzes zahlreich aktiv, engagierten sich seit Jahren für die Genese des neuen Gesetzes und erfuhren nun eine bis dahin unerhörte Aufwertung.
Die Gegenöffentlichkeit, die alternative Öffentlichkeit, die Gegenhegemonie wechselte aus dem Feld des gegen alle Widerstände dennoch möglich Gemachten hinüber in das Feld der vom Staat Gewollten und Geförderten. Die Kräfte der Veränderung und Überwindung der (kapitalistischen) Gesellschaft, der Entwicklung der Demokratie und der Humanität erhielten ein Drittel der medialen Potenz der Medienlandschaft des Landes als ihr Terrain und Schutzraum zugewiesen. Es war etwas geschehen, das in fast allen anderen Staaten der Welt derzeit vollkommen unmöglich erscheint. Wer es dort dennoch für sich wünscht, muss sich fragen: Wie wurde das Unmögliche möglich gemacht? Wie wurde es erkämpft? Was waren die gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Momente, die für diesen Kampf hilfreich Pate standen? Was wurde bis heute in der Praxis aus diesem unmöglichen Gesetz umgesetzt? Auch diesen Fragen geht diese Studie umfassend nach.
Vor allen wissenschaftlichen Interessen, Neigungen und natürlich auch dem Streben nach persönlicher Entwicklung gab es ein überragendes Motiv für mich, diese Studie zu verfassen: Hoffnung. Ich habe die Hoffnung, dass linke und progressive Kräfte in Deutschland und Europa aus den jüngeren Entwicklungen in Lateinamerika lernen können, weil die Lust auf neues Wissen größer sein kann als die eurozentristische und westliche Arroganz, die dem Prozess des Lernens »vom Süden« einstweilen noch deutlich entgegensteht: Lateinamerika wird hierzulande mitunter beschaut, bestaunt oder bedauert, doch die dort real stattfindenden Hinwendungen zu einer postkapitalistischen Gesellschaft werden meist als ein für hiesige entwickelte Zustände kaum relevantes Aufbäumen der Unterdrückten der unterentwickelten Peripherie wahrgenommen. Eine Übertragung der dortigen Ideen, Analysen, Strategien und Taktiken ist aber nicht so sehr gehindert durch die Verschiedenheit der Verhältnisse, sondern eher durch die hiesige Hoffnungslosigkeit. Zu hart, zu verletzend, zu lähmend wiegen der ökonomische Untergang und die moralische (Selbst-)Entweihung des europäischen Sozialismus und zu offenbar, zu vernünftig, zu klar scheint die Erkenntnis, der Kapitalismus habe auf lange Zeit gesiegt. Es sind aber die Menschen, die ihre Geschichte machen, dies eben nicht nur unter den Umständen, die sie vorfinden, sondern die sie gestalten, die sie mit Mühe dem Vorgefundenen und sich selbst abringen müssen.11
Ohne Hoffnung hat diese Mühe keinen Anfang. Der deutsche Philosoph Ernst Bloch schrieb, es »kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.« (Bloch, E. [1959] 1985: 1) Wer das Gelingen sucht, wer Hoffnung lernen will, braucht hoffende und handelnde Vorbilder. Die gibt es. Sie finden sich auf der ganzen Welt, und sie finden sich auch in Argentinien und in Lateinamerika.
Ich danke den Menschen, die sich in den Community-Radios und in den sozialen Bewegungen in Argentinien für eine postkapitalistische Gesellschaft engagieren. Ich danke den Dozenten der Universität Buenos Aires José Seoane, Claudio Vivori, Damián Loreti, Guillermo Mastrini und Santiago Marino, die mir erneut gezeigt haben, dass eine andere Universität möglich ist. Ich danke meiner Mitstudentin Ligia Nicolai, die mir bei der Transkription der Interviews unter die Arme griff und mit ihren Anmerkungen und Ideen die Analyse beflügelt hat. Ich danke der Rosa-Luxemburg-Stiftung, deren Stipendiatin ich zeitweilig war. Ich danke El Caminante und Marcus Wagner für das sorgfältige Lektorat. Ich danke all den vielen Menschen, die mich bei diesem Promotionsprojekt unterstützt haben, indem sie es durch ihre Kritiken und ihre Anregungen bereicherten.
Viviana Uriona, Berlin, Oktober 2016
2.1 (Community)-Radios – ein kurzer Überblick über eine realexistierende Gegenhegemonie
»Anfang 1987 wurden ca. 60 Radiostationen gezählt, 1988 waren sie auf so um die 1000 gestiegen und im Jahr 1989 sprach selbst der erste Direktor der Rundfunkanstalt in der Zeit der Regierung Menem schon von 2155 anerkannten Radiostationen«12, 13 (Rodriguez Esperón, C. 2000: 210)
Von Europa aus nur von Insider*innen der freien Radioszene bemerkt und von der politischen Wissenschaft, der Medienwissenschaft und den Sozialwissenschaften weitgehend übersehen, vollzog sich in Argentinien (und in anderen lateinamerikanischen Ländern) ab Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts eine mediale Revolution.
Selten legal14, meist halblegal15 und oft illegal16 wurden überall im Lande und mit wachsender Geschwindigkeit neue Radiostationen (nicht alle von ihnen Community-Radios17) eröffnet, die sich weder als private Radios noch als staatliche Sender qualifizieren lassen. Sie wurden oft von sozialen Gruppen gemeinschaftlich aufgebaut und betrieben, sendeten meist gegen den Mainstream an, erfanden nicht selten völlige neue Sendeformate, bezogen häufig die immer zahlreicher werdenden Hörer*innen in ihre Berichterstattung und Inhaltsgestaltung ein und woben ein dichtes Netz aus Gesellschaftskritik in den Äther hinein.
Die Erforschung (der Geschichte) dieser Radios der dritten Art ist auch in Argentinien erst in den letzten Jahren vertieft vorangetrieben worden und längst nicht abgeschlossen. Sicher scheint, dass die Zahl der Stationen zunächst stark anstieg und dann ab 1989 gleichsam durch einen genetischen Flaschenhals18 ging. Einem Text von Rodriguez Esperón sind dazu folgende Überlegungen zu entnehmen: Ohne Zweifel spielte die Demokratisierungsphase im bürgerlich-demokratischen Sinne eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Geschichte der Radios. Auch wenn einige Radiosender wenige Jahre zuvor und viele andere nach dieser Periode des Umbruchs aus der Diktatur in die Demokratie entstanden, ist die Zahl derjenigen gering, die sich über einen langen Zeitraum hinaus halten und weiterentwickeln konnten. Einige haben die Hyperinflation der 1990er Jahre nicht überstanden, andere fielen ihrem ungenügenden Partizipationscharakter zum Opfer. Denn auch, wenn die Notwendigkeit zu partizipieren bei den Stationen Mode war, ist Partizipation im eigentlichen, inneren Sinne schwer zu erlernen, ist etwas, was nicht von oben diktiert, nicht einmal empfohlen werden kann. Sie muss im Alltäglichen geübt werden, und wer übt, kann scheitern.
Rodriguez Esperón hebt einige Merkmale hervor, die uns helfen können, die anfängliche Explosion der Stationszahlen nachzuvollziehen (Rodríguez Esperón, C. 2000: 210):
1 Die