Sie senden den Wandel. Viviana UrionaЧитать онлайн книгу.
relativ schnelle Erschöpfung des bürgerlichen Parlamentarismus19.
3 Die stetige Senkung der Kosten für die Einrichtung und den Betrieb der Sender.
4 Eine starke Zunahme der Einschreibungen an den medienwissenschaftlichen Fakultäten.
5 Und natürlich der kreative Geist der Menschen im Lande, ihr Sich-Ausdrücken-Wollen.
Eine Studie, die La Crujia bereits im Jahr 1984 veröffentlichte, liefert einen weiteren Anhaltspunkt. Von Anfang an kamen viele der neuen Radiostationen aus der Mitte der sozialen Bewegungen, Gewerkschaftsstrukturen, Gemeindezentren, Stiftungen, Clubs in den jeweiligen Vierteln etc. (Busso, M. C. 2003: 36). Wir können schlussfolgern: Gesellschaftlichen Gruppen, denen eine gewisse Art von Organisationsstruktur ohnehin nicht fremd war, übertrugen ihre Erfahrungen und Ideen auf den Prozess der Bildung einer eigenen (Radio-)Stimme.
All diese Faktoren sind wohl bis heute systemrelevant. Ein siebter Faktor kommt etwa ab den späten neunziger Jahren hinzu: die Digitalisierung. Zum Ersten wirkt sie weiter senkend auf die Kosten des Sendeequipments. Zum Zweiten ermöglichte sie die erleichterte Verwaltung des Audiomaterials (mp3). Zum Dritten und wohl am Entscheidendsten: Das Internet vereinfachte und verbreiterte den Zugang und den Austausch zu/von Informationen, die für die Stationen relevant sind, sowohl in inhaltlich-politischer als auch in technischer Hinsicht.
Diese erleichterten technischen Rahmenbedingungen haben zu einem erneuten Anwachsen der Stationen (hinter dem Flaschenhals) ganz sicher beigetragen. Auch das neue Mediengesetz hat den Prozess beflügelt. Noch entscheidender war aber ebenso sicher der Lernprozess. Die meisten heutigen Stationen vermeiden die Fehler der ersten Generation; sie arbeiten – was dargestellt werden wird – als emanzipatorische Projekte nach dem Prinzip des Empowerments, in dem die Partizipation gar konstitutiv ist.
Bis zum Jahr 2014 war die Anzahl von Radios der dritten Art wieder stark angestiegen und hatte das Hoch des Jahres 1989 bereits weit überflügelt. Allein die Anzahl der legalen Stationen betrug 3199. Dazu kamen 6520 Stationen ohne einen anerkannten Rechtsstatus. (Ballesteros, T. 2014: 35f) Auch die Anzahl der Community-Radios stieg wieder stark an und liegt zwischen 3000 bis 4000 Stationen20. Schon etwa ab dem Jahr 2005 begannen einige Forscher aus anderen Blickwinkeln andere Spuren dieser Radiogeschichte aufzunehmen und zu verfolgen. Spuren, die z.T. viel weiter zurückreichten als nur bis zum Jahr 1985 und auch zunächst nicht viel mit Kommunikation(swissenschaft) zu tun hatten: Spuren des Widerstandes21, der Klassenkämpfe, des Empowerments und des Prinzips der Poder Popular22. Ohne diese gesellschaftskritischen und -transformativen Spuren aufzunehmen, lassen sich m.E. weder das Phänomen der Community-Radios selbst noch der Sinn und Zweck ihres Sendens wirklich erhellen.
1 Matallana, A. (2006): »Locos por la radio«. Una historia social de la radiofonía en la Argentina, 1923–1947, Buenos Aires. Ulanovsky, C., Merkin, M., Panno, J. J. und Tijma, G. (2004): Días de radio I (1920–1959), Buenos Aires. Ulanovsky, C., Merkin, M., Panno, J. J. und Tijma, G. (2004): Días de radio II (1960–1995), Buenos Aires. Ulanovsky, C. 2007: »Siempre los escucho« Retratos de la radio argentina en el siglo XXI, Buenos Aires.
2 Das vor allem in Filmen oder Serien gezeichnete Bild zeigt meist die Küche einer Mittelstandsfamilie, in der ohne Unterlass die »Glotze« läuft. Dieses Bild stimmt nicht mit der breiten Realität überein, schon deshalb nicht, weil Millionen Lateinamerikaner*innen nicht dem Mittelstand zurechenbar sind. Das Radio hat auf dem Kontinent für die meisten Menschen eine viel größere Bedeutung als das Fernsehgerät.
3 Auf Deutsch: »Die Verrückten der Dächer.« So werden vier junge Männer in Erinnerung gehalten, die am 27. August 1922 vom Dach des damaligen Theater Coliseo die erste »Radiosendung« durchführten: der Arzt Enrique Telémaco Susini (25 Jahre alt) und die Medizinstudenten Miguel Mujica (18), César Guerrico und Luis Romero Carranza (22). Um 21 Uhr sendeten sie live die Oper Parzival von Wagner. Zu dieser Zeit gab es in der Stadt nicht mehr als 20 Radiogeräte, also nicht mehr als ca. 50 Zuhörer*innen, die sich um diese Geräte versammelten.
4 Der Begriff ist nicht gänzlich befriedigend und dennoch m.E. am geeignetsten, um eine Vielzahl verschiedener »Radios der dritten Art« zwar nicht unter einen Hut, aber unter eine Bezeichnung zu bekommen, während andere Radios der dritten Art bewusst nicht erfasst werden sollen. Das III. Kapitel gibt zu diesen Differenzierungen Auskunft.
5 Der Begriff der sozialen Bewegung ist für mich keine Hülle für einen beliebigen (politischen) Inhalt, sondern beschreibt in dieser Arbeit ausschließlich linke und progressive Gruppen. Es existiert eine Tendenz der antimodernen Umwidmung von Begriffen, auch in der Politikwissenschaft. Die Eigenbezeichnung von rechten oder konservativen Gruppen als »soziale Bewegung« darf nicht unkritisch reproduziert werden – dies aus denselben Gründen, wie etwa ein undemokratisches Konzept keine »Neue Demokratie«, ein Abbau von sozialen Standards keine »Reform« und im Ergebnis keine »Neue soziale Marktwirtschaft« ist. Es wäre eine große Hilfe für die humane Entwicklung nicht nur innerhalb der Konzepte der Wissenschaft, sondern innerhalb der Gesellschaft, wenn Wissenschaftler*innen sich darüber im Klaren wären, welche Verantwortung sie allein durch ihren Sprachgebrauch persönlich tragen – ganz nach Bourdieu durch die (Neu)Prägung von Begriffen und Diskursen.
(vgl.: Bourdieu, Pierre (2002): »Für eine engagierte Wissenschaft«, in: Le Monde Diplomatique [deutsche Ausgabe] vom 15. Februar 2002 oder auch hier zu finden: http://www.engagiertewissenschaft.de/de/inhalt/Fuer_eine_engagierte_Wissenschaft_Die_letzte_Rede_von_Pierre_Bourdieu. Letzter Zugriff am 29. Juli 2016.
6 Im Laufe dieser Studie werden die distanzierenden Anführungsstriche ersetzt werden durch eine kritische Inhaltsbestimmung des Begriffs.
7 radikal = von der Wurzel her.
8 In der Bundesrepublik Deutschland wird (nicht ganz ohne Grund) viel Wert darauf gelegt, dass es sich bei den öffentlich-rechtlichen Sendern nicht um staatliche Sender handele. Dies stimmt insofern, als dass sie (anders als lange Zeit in Lateinamerika üblich) nicht von der jeweiligen Mehrheitspolitik betrieben werden, sondern alle relevanten politischen Kräfte in ihren jeweiligen Kräfteverhältnissen abzubilden haben. Es stimmt insofern aber auch nicht, als dass das Spektrum der berücksichtigten politischen Ansichten den bürgerlichen Staat als solchen bejaht und systemüberwindende Kräfte fast nie positiv zu Wort kommen. So betrachtet handelt es sich bei den öffentlich-rechtlichen Medien um Medien des bürgerlichen Staates, mithin um Staatsmedien. Und um die Sache noch komplizierter zu machen: Auch in Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern haben die Staatssender in den letzten Jahren tiefgreifende Veränderungen durchlaufen; die vorher üblichen Interventoren der Exekutive wurden abgewertet oder abgeschafft und es wurden Senderräte eingerichtet, die die Vielzahl der gesellschaftlichen Stimmen für die Inhaltsgestaltung berücksichtigen. Wenn sich somit die Begriffe »öffentlich-rechtliche Sender« und »Staatssender« sinnvoll abgrenzen lassen, so ist die zu bestimmende Grenze jedenfalls eine fließende.
9 Das Gesetz meint den Begriff des Privaten nicht in der Bedeutung von »persönlich«, sondern grenzt staatliches Eigentum von Privateigentum ab. Eine Gruppe von Radiomacher*innen eines Community-Radios hat (u.U. samt ihrer