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Die verlorene Insel. Nataliya GumenyukЧитать онлайн книгу.

Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk


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      Mein estnischer Kollege hat im Übrigen einen konkreten Auftrag: in Simejis lebt der berühmte estnische Basketballprofi, ehemalige sowjetische Meister und seit Kurzem auch Schriftsteller Mihkel Tiks. Für seinen Ruhestand hat er sich auf der Krim niedergelassen. So wie die britischen Rentner nach Spanien auswandern, so fänden die Esten ihren Seelenfrieden eben auf der Krim, sagt er. Aus dem Fenster seines schlichten, lichtdurchfluteten Hauses hat man eine herrliche Aussicht über die Zypressen und auf das Meer.

      Tiks lebt seit acht Jahren hier. Selbst in diesen stürmischen Tagen sei es an der Südküste für gewöhnlich ruhig. Es gibt keine Stützpunkte, daher sei hier nicht viel los. Dabei seien die Nachrichten beängstigend: „Hier verschwindet ein ukrainischer Soldat, da ein französischer General, dort finden sie einen toten Krimtataren. Diejenigen, die gegen die Besatzung sind, sollten besser den Mund halten, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Es wäre besser, wenn sie die Krim verlassen.“

      Tiks überlegt, wie die Krim wieder ukrainisch werden könne. Wenn das Land zu neuen Kräften komme, würden die Bewohner der Krim in fünf Jahren von alleine zurückwollen: „Im Laufe der Jahre habe ich begriffen, dass die Bewohner der Krim niemals aus eigener Anschauung erfahren haben, was Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeuten. Man kann ihnen nur schwer etwas erklären, was sie noch nie selbst erlebt haben. Ich kann sogar nachvollziehen, dass die Leute die gesamte Ära Janukowytsch über alle Maßen satt haben, die Macht der Oligarchen, die allgegenwärtige Korruption, aber aus irgendeinem Grund haben die Leute beschlossen, dass Russland das alles im Griff hat“, sagt er, überrascht von seinen eigenen Worten. Es scheint, als habe er lange auf die Gelegenheit zu einem Gespräch mit einem Landsmann gewartet. Dieser Tage hat er nur wenig Kontakt zu seinen Nachbarn.

      Wir befinden uns ganz in der Nähe von Jalta, weshalb wir uns zu einem kurzen Abstecher in die Stadt entschließen. Auf der Strandpromenade unterhalten wir uns mit einer Reihe von Souvenirverkäufern und Spaziergängern. In stürmischen Zeiten finden die Meinungen solcher Menschen kaum Beachtung. Auf den ersten Blick wirken sie wie gleichgültige Spießbürger. Tatsächlich aber bilden eben diese Menschen die Mehrheit. Die meisten unserer Gesprächspartner sagen, sie seien „weder dafür noch dagegen, da sich nichts wirklich geändert hat und auch nicht ändern soll.“ Unterwegs halten wir für einige Minuten am sogenannten Schwalbennest, einem Schloss, das unter Touristen sehr beliebt ist. Wir machen ein paar Fotos – und das vielleicht einzige Selfie der gesamten Reise; ein Andenken, nur für uns selbst. Touristische Aufnahmen kommen uns in diesem Augenblick besonders wertvoll vor (und tatsächlich werden in den kommenden Jahren in den ukrainischen Medien nur wenige unbelastete Eindrücke von der Krim zu sehen sein). Zurück in Balaklawa kehren wir zum ersten Mal während dieser Reise für ein Abendessen in ein Restaurant ein. Der eingeschaltete Fernseher sendet aus dem Georgs-Saal im Kreml. Die Separatistenführer, der „Volksbürgermeister“ von Sewastopol Oleksij Tschalyj, der sogenannte Regierungschef der Krim Sergej Aksjonow und der Parlamentssprecher Wolodymyr Kostjantynow unterzeichnen gemeinsam mit Putin einen „Vertrag über die Aufnahme der Krim und Sewastopols als neue Föderationssubjekte der Russischen Föderation“. Dann unterzeichnet Putin ein Dekret über den Anschluss der Krim. Ich versuche, die Emotionen der Restaurantbesucher von ihren Gesichtern abzulesen. Freuen sie sich? Sind sie empört? Das alles gemahnt an eine Szene wie aus einer Dystopie, in welcher die Menschen aus dem Untergrund unversehens in eine Bar geraten sind und nun Angst haben, das einer der anwesenden Gäste sie bloßstellt, indem er mit dem Finger auf sie zeigt und ruft: „Seht her, da sitzen die Aufständischen!“ Ich möchte von hier verschwinden. An der Mauer des Nachbargebäudes prangt ein Schriftzug: „Wer in Angst lebt, wird an der Angst zugrunde gehen.“

      Wir planen unsere Rückreise nach Kyjiw. Am nächsten Tag soll ich die Eröffnungsfeier der Dokudays, eines Dokumentarfilm-Festivals über Menschenrechte, moderieren. Auf der Krim wurden zwei bekannte Regisseure des Filmkollektivs Babylon'13 – der Kameramann Jurij Gruzynskyj und Jaroslaw Pilunskyj – festgenommen. Der Vater des Letztgenannten ist ein auf der Krim bekannter Politiker, der sich offen gegen die russische Annexion ausgesprochen hat. Sie wurden am Checkpoint Tschonhar festgenommen und sechs Tage gefangen gehalten.

      Aus irgendeinem Grund scheint es mir, als könnte ich nach meiner Rückkehr von der Krim berichten, was dort wirklich vor sich geht. Ich erhalte noch einige Kontakte von Aktivisten des Euromaidan auf der Krim. Unter diesen Umständen haben solche Gesprächspartner einen hohen Seltenheitswert.

      Es handelt sich um zwei Schwestern. Die jüngere ist um die 65, die ältere 75 Jahre alt. Sie nennen ein gemütliches Haus am Stadtrand von Simferopol ihr Eigen. Obwohl sie wissen, dass wir es eilig haben, versuchen sie uns, wenn schon nicht zum Essen, so doch wenigstens auf einen Kaffee einzuladen.

      „Natalija, jeden Tag sind wir zu den Kundgebungen gegangen, aber wir waren zu wenige“, so die Jüngere.

      „Nein, dass wir zu wenige waren ist nicht der Grund für das alles; das wurde schon lange vorher entschieden“, widerspricht die Ältere.

      „Hier auf der Krim hat man den Maidan nicht verstanden. Erst hinterher begann man sich dafür zu interessieren. Es gab aber auch Leute mit prorussischen Ansichten, die begriffen haben, dass der Maidan nicht gekauft war, dass die Menschen schlicht und ergreifend für ihre Rechte, ihre Ehre, ihre Würde und für die Freiheit auf die Straße gegangen sind. Erst

      „Das reicht jetzt!“, unterbricht sie die ältere Schwester. Sie hat Angst, dass die Jüngere sich um Kopf und Kragen redet.

      „Herrgott noch eins! Das wissen doch alle!“

      „Walya, willst du Nummer 15 auf der Vermisstenliste werden?“

      Eine heißdiskutierte Frage ist das Verhalten Kyjiws nach der sogenannten Abstimmung. Die Jüngere befindet: „Ich für meinen Teil liebe die Ukraine so sehr, dass ich bereit wäre, Opfer zu bringen. Einen Ofen bauen, mit Brennholz heizen. Aber ich finde nicht, dass die Ukraine die Stromversorgung unterbrechen sollte. Es zahlt sich aus, die Menschen zu unterstützen, die 23 Jahre lang ihre Staatsbürger gewesen sind. Es gibt hier ja auch welche, die die ukrainische Sprache unterstützen, und das sind nicht nur ethnische Ukrainer, sondern auch russischsprachige und sogar ethnische Russen. Es ist alles so kompliziert, ich kann mir nicht vorstellen, wie man sich mit dieser nicht legitimierten Regierung an den Verhandlungstisch setzen könnte. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“

      „Und worauf hofft ihr?“

      „Wir setzen auf uns selbst. Und darauf, dass Aksjonow und Konsorten uns nicht hinter Gittern bringen, weil wir andere Ansichten haben…“

      „Wir suchen uns Trost. Wir spazieren in unseren wunderschönen Garten. Kommt in einem Monat nochmal vorbei, dann seht ihr, wie hier alles blüht…“ – für einen Moment wechselt die Frau das Thema, dann fährt sie fort: „Aber wir wissen nicht, welche Rechte wir dann noch haben werden. Wie können wir die Bindung zur Ukraine aufrechterhalten? Sie rufen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung auf. Aber weshalb sollten wir unsere Häuser verlassen? Erstens haben wir Angst vor Plünderungen.


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