Die verlorene Insel. Nataliya GumenyukЧитать онлайн книгу.
bescheidenen Lebensverhältnisse der ukrainischen Offiziere. Überall auf den Fluren stehen große, karierte Taschen; Anzeichen für die Abreisevorbereitungen der Familien.18
Nicht nur ihre Wohnungen und Familien hindern die Ortsansässigen an der Abreise. Wiktor Wasylowytsch, der Offizier außer Dienst, der uns zu diesem Stützpunkt und diesem Wohnheim gebracht hat, sagt, dass er die Halbinsel nicht so ohne weiteres verlassen könne. Es ist noch nicht so lange her, dass sein Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Und die Person, die den Unfall zu verantworten habe, sei noch nicht verurteilt worden; der Prozess dauere noch an: „Ich verstehe einfach nicht, wie das möglich ist, und ich kann nicht zulassen, dass die Akte einfach geschlossen wird“, erklärt er leise.
In der Innenstadt treffen wir uns mit einem anderen Angehörigen der ukrainischen Marine. Seine ganze Familie stammt aus Sewastopol. Roman mimt für uns den Tourguide und führt uns durch die Stadt. Er zeigt uns das Moskauer Haus und das russische Offizierskasino, das schon sehr lange auf der Krim ansässig ist. Dabei wiederholt er gebetsmühlenartig, wie lange Russland hier schon seine Vorherrschaft ins Felsgestein meißelt: „Sewastopol, die Krim wie auch das Baltikum sind Rückzugsorte für viele Soldaten im Ruhestand. Sie haben in Russland gedient und genießen hier ihre Rente. Und nun fordern sie ein besseres Leben. Sie sind einfach auf die russischen Rentenzahlungen angewiesen. Mit der Krim oder der Ukraine fühlen sie sich in keinster Weise verbunden, deshalb unterstützen sie die Vereinigung mit Russland. Das trifft auch auf diejenigen zu, die für Unternehmen arbeiten, die mit der Wartung der Schwarzmeerflotte betraut sind. Dann gibt es noch die ‚Berufsrussen‘ aus den prorussischen Organisationen. Die jungen Menschen sind in den Jahren nach der Unabhängigkeit auf der Krim aufgewachsen, haben an ukrainischen Hochschulen studiert, sind nach Europa gereist und haben das Leben in der Sowjetunion nicht miterlebt; viele waren noch nie in Russland. Doch im Gegensatz zu den Rentnern sind sie nicht sonderlich aktiv. Denn die, die haben keine einzige Wahl verpasst.“
Die Straßen sind fast menschenleer. Auf unserem Weg zum Treffen können wir die Silhouetten der „höflichen Menschen“ erahnen – bewaffneten Soldaten, die um die Häuserblöcke patrouillieren. Einerseits ist die Versuchung groß, weitere Aufnahmen von russischen Sicherheitskräften zu machen. Andererseits ist Vorsicht geboten: die Aussicht, sich mit einem in Kyjiw ausgestellten ukrainischen Pass und dem Reisepass eines estnischen Staatsbürgers ausweisen zu müssen, ist nicht sehr verlockend. Für alle Fälle suchen wir uns einen ruhigeren Ort. Wir sind die einzigen drei Gäste in der anscheinend einzigen Bar, die um diese Zeit im Stadtzentrum noch geöffnet hat. Ein ukrainischer Sender läuft im Fernsehen. Ich will wissen, ob sie auch andere Sender empfangen. Das Mädchen hinter der Theke sagt, dass ihre Eltern zwar alle Sender empfangen, ihnen aber keinen Glauben schenken würden: „Da zeigen sie Massen von Menschen auf der Flucht, aber Sie sehen doch, dass das nicht der Fall ist.“
„Das größte Problem für die ukrainischen Seestreitkräfte und die ukrainischen Bürger auf der Krim ist die Untätigkeit der Machthaber in Kyjiw. Drei Wochen lang musste das Militär ohne schriftliche Befehle auskommen. Es gab lediglich Anrufe aus dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab. Es hieß, wir sollen auf unseren Posten bleiben, doch was zu tun sei, konnten sie uns nicht sagen“, erklärt Roman.
Seiner Ansicht nach müsse man entweder alle Truppen abziehen oder aber sich auf Bedingungen einigen, unter denen sie hierbleiben können. Doch dazu bliebe keine Zeit: „In den kommenden Tagen werden die übrigen Stützpunkte erobert. Ohne Beistand vom Festland werden sie sich nicht halten können. Der Vorsitzende des Ministerrats der Krim hat angekündigt, dass das gesamte Eigentum auf dem Territorium der Halbinsel verstaatlicht wird – und damit auch alles, was der Marine gehört. Sie werden also alles mitnehmen, Waffen, Militärtechnik, Schiffe, die Magazinbestände, einfach alles. Aktuell liegen in der Strilezka-Bucht einige Schiffe und U-Boote, hinzu kommen einige bemannte ukrainische Schiffe am südlichen Marinestützpunkt in Donuslaw. Wenn es wie von Aksjonow angekündigt dazu kommt, dass sie ebenfalls festgesetzt werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Schiffe entweder preiszugeben, abzuziehen oder zu versenken. Die Leute handeln auf eigene Initiative, ohne klare Anweisungen aus Kyjiw. Das kann nicht lange gutgehen. In Nowooserne wurde bereits eine Garnison eingenommen. Mindestens die Hälfte aller Schiffe wurde seit der Unabhängigkeit in der Werft in Mykolajiw vom Stapel gelassen. Das alles setzt Kyjiw durch seine Unentschlossenheit aufs Spiel.“
Wir verabschieden uns und wollen aufbrechen. Den ganzen Abend lang redete Roman besonnen, führte Fakten an und legte Argumente dar. Doch plötzlich klingt seine Stimme verärgert, so als wäre das Wesentliche noch nicht zur Sprache gekommen: „Wie kann es sein, dass wir, eine Nation der Kosaken, uns kampflos ergeben haben? Das bekümmert mich zutiefst. Ich weiß nicht, was ihr in Kyjiw so denkt, aber hier fragen sich alle, wie ihr Leben unter Russland aussehen wird.“
„Werden Sie die russische Staatsbürgerschaft annehmen?“
„Wenn die Krim russisch wird, lässt sich das wohl nicht vermeiden. Was bleibt mir anderes übrig? Man hat uns im Stich gelassen. Von Rechts wegen hätten wir auf die Angreifer schießen müssen. Aber wir unterließen es – auch, weil die Soldaten sich nicht sicher sein konnten, ob Kyjiw hinter ihnen steht. Das russische Militär folgte den Angreifern auf dem Fuße – vielleicht hatte sich das russische Militär auch die Uniform der Volksmilizen übergezogen. Wir werden hier von einer Horde Banditen regiert werden wie in Tschetschenien und dabei zusehen, wie die Ukraine EU- und NATO-Mitglied wird.“
Roman setzt seinen Monolog fort: „Eine starke Armee, eine starke Wirtschaft – und die Krimbewohner werden selbst darum bitten, wieder ein Teil der Ukraine zu werden. Doch bis es so weit ist, werden noch viele Jahre vergehen. Vielleicht kommt es hier auch zu ethnischen Säuberungen gegen Ukrainer, und es werden mehr Menschen leiden müssen, als wenn anstelle des russischen Eindringens ein offener, bewaffneter Konflikt ausgebrochen wäre.“
Ich werde Roman ein halbes Jahr später in Odessa wiedertreffen. Seine Einheit wurde von der Krim dorthin verlegt. In Sewastopol unterhielt er sich noch in seiner Muttersprache Russisch. Nach einem halben Jahr in Odessa hat er sie vollständig abgelegt. Für ihn ist sie die Sprache der Verräter.
Auf den Dächern der Plattenbauten von Sewastopol wehen russische Flaggen. Kritiker der Annexion sind unversehens im Untergrund gelandet. In einer weiteren Plattenbausiedlung am Rande dieser Stadt, die mir gigantisch vorkommt, da wir von einem Viertel ins nächste jedes Mal mindestens eine Stunde unterwegs sind, treffen wir ebensolche Kritiker in Gestalt eines Ehepaars.
Die beiden sind Mitglieder einer evangelikalen Kirchengemeinde und haben schreckliche Angst vor dem, was noch kommen mag. Sie berichten über den Druck gegen und die Gefahren für Gläubige, die einer anderen Konfession angehören als der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Kosaken und Berkut-Mitglieder haben einen Baptistenpriester am Checkpoint in der Nähe von Armjansk brutal zusammengeschlagen. Die Eheleute helfen gemeinsam mit anderen Gläubigen bei der Suche nach einem jungen Glaubensbruder, der offenbar am selben Checkpoint verschwunden ist. Informationen zu dem Jungen werden mündlich unter den Gemeindemitgliedern weitergegeben. Wir sind überfordert. Wie soll man das alles schaffen? Sollen wir alles stehen und liegenlassen, um nach einer einzigen Person zu suchen? Wir sind in Sewastopol und schaffen es nicht, vor Mitternacht von der Halbinsel wegzukommen. Ich notiere mir alle Telefonnummern und leite sie an die Redaktion weiter.
„Entschuldigen Sie bitte mein Krim-Kauderwelsch“19, sagt der Mann auf Russisch: „Das ist ein entsetzliches Gefühl. Ich hatte nie ein Problem mit meiner Sprache. Aber jetzt schon. Und ich möchte diesen Scharfmachern sagen: ‚Ja, es gibt ein Problem. Und ihr habt es uns eingebrockt. Danke!‘“ – das letzte Wort sagt er auf Ukrainisch.
Es gibt auf der Halbinsel immer noch Straßensperren, an denen die Papiere kontrolliert werden. Um aus der Stadt zu gelangen, haben wir beschlossen, uns mit dem Fahrer eines estnischen Geschäftsmannes zusammenzutun, bei dem wir für einige Tage in Balaklawa, einem Viertel in Sewastopol, untergekommen sind. Oleksandr war einer derjenigen, die an den Straßensperren die Ankunft des „Rechten Sektors“ erwartet haben. An dem teuren Wagen flattert