Der Hungerturm. Michael ThumserЧитать онлайн книгу.
voller dampfender Mittagessen unter Kunststoffhauben auf sie zukam. Dann spürte er einen sterilen Händedruck.
Es ist ein schwieriger Fall, sagte der Arzt zum Abschied, kein außergewöhnlicher, aber ein schwieriger Fall.
Als Fall hatte Winberg Christine noch nicht gesehen.
Der Fall sei eindeutig, sagte ihm ein Polizeibeamter auf der Wache. Bedauerlich, ja, und: Es tut uns leid für Sie und Ihre Frau, sagte er und schien es ehrlich zu meinen.
Winberg nickte irgendwohin. Neben ihm stand ein alter, verwüstet aussehender Mann, der Anzeige gegen Unbekannt erstatten wollte und dem ganzen Raum seine verfahrene, völlig nichtige Geschichte aufdrängte.
Kommen Sie, sagte der Beamte, nahm Winberg mit sich hinter den Tresen und ging voran in einen kahlen Nebenraum, wo ein Tisch, ein paar Stühle, Schränke und Regale standen. Sie setzten sich.
Kennen Sie den Doktor?, fragte der Beamte.
Wen?, gab Winberg zurück.
Doktor Kryger, sagte der Beamte. Ich habe Ihnen gerade berichtet, dass er den Wagen fuhr.
Ach ja.
Sie kennen ihn?
Nein.
Doktor Kryger – Sie haben wenigstens den Namen schon gehört, forderte der Beamte.
Winberg dachte an Christine und wie sie vor dem Auto eines Doktor Kryger lag.
Er führt eine Privatklinik am Stadtrand. Da geben sich sogar die Minister die Klinke in die Hand.
Winberg sah noch, wie Christine mit gefüllter Einkaufstasche vor den Wagen lief.
Der Fall ist eindeutig, wiederholte der Polizist. Ihre Frau hat nach etwas auf der anderen Straßenseite Ausschau gehalten, vielleicht einen Bekannten gesehen. Die Zeugen sagen, sie sei auf die Fahrbahn gelaufen, mit erhobener Hand, als ob sie jemandem winken wollte, und habe nicht nach rechts gesehen und nicht nach links.
Wie heißt der Mann?, fragte Winberg mitten hinein.
Kryger. Mit Ypsilon, antwortete der Polizist und sah Winberg prüfend an.
Wann ist es passiert?
Gegen zehn, sagte der Beamte. Der Mann ist unschuldig, daran ist kein Zweifel.
Unschuldig, wiederholte Winberg.
Der Fall ist eindeutig, sagte der Polizist.
Entsetzen ergriff Winberg erst, als er den grauen Steinwänden der Hochhaussiedlung näher kam – er wusste nicht, ob es Mitleid mit Christine war, was ihn derart erschreckt hatte, oder ob die Verzweiflung ihn ausgerechnet hier packte, weil er jetzt allein hier wohnen sollte, inmitten dieser Häuser, die immer dastanden wie in endlosen Regenschauern und die taten, als könnten sie nicht wahrhaben, dass auch manchmal die Sonne schien. Der Sommer in solch einem Haus sei verlorene Zeit, hatte Christine einmal gesagt.
Als er durch die betonbegrenzten Grünanlagen auf das Haus zuging, das zufällig seine Wohnung enthielt, wurden seine Schritte wie von selbst immer langsamer, als wollten seine Beine den Augenblick noch weiter hinauszögern, in dem ihre Bewegung zum Stillstand kommen musste. Winberg nahm nicht den Lift, sondern stieg Stockwerk um Stockwerk an verschmierten Wänden entlang das stets leicht nach Urin und Gummi riechende Treppenhaus hinauf.
Wenn er sonst seinen Schlüssel aus dem schweren, klirrenden Bund heraussuchte und dann im Schloss der Wohnungstür drehte, rief Christine immer:
Bist dus?,
als ob es auch jemand anderer sein könnte. Er rechnete damit, dass diesmal die Wohnung still bleiben würde, und doch fiel ihm auf, dass niemand rief, und er fühlte sich fast ein wenig schuldig, weil er darüber nicht noch mehr erschrak. Im Flur, als er die Tür geschlossen hatte, blieb er im Halbdunkel stehen und lauschte, als ob hinter einer der Türen schlecht über ihn gesprochen werden könnte. Es war nichts zu hören als das regelmäßige Knacken eines Uhrpendels und das Summen des Kühlschranks.
Du machst dich zum Narren, sagte sich Winberg. Aber er vermochte es nicht, sich zusammenzunehmen. Dabei hatte er nicht einmal Angst um Christine – obwohl er wusste, dass es allen Grund dafür gab. Zunächst musste er sich anstrengen, ein Das-hat-nochgefehlt-Gefühl loszuwerden, das in seinem Kopf war und trotz mühseliger Konzentration auf die Katastrophe selbst immer wieder auftauchen wollte.
Im Wohnzimmer lag die Zeitung noch halb aufgeschlagen auf dem Tisch, Geschirr, Butter und Marmelade standen hastig zusammengestellt auf einem Tablett. Im Schlafzimmer waren die aufgeschüttelten Kissen und Decken ordentlich über die Bettenden gebreitet. Durch das offene Fenster kam ab und zu ein leichter Windzug, der ein wenig nach Ruß roch und ein wenig nach jungen Bäumen. Christines Leben schien in der Wohnung geblieben zu sein, ihre durch die Jahre hindurch bis ins Unbewusstsein eingeübten allmorgendlichen Tätigkeiten schienen nur für kurze Zeit unterbrochen. Was da im Krankenhaus lag, wollte mit Christine noch nicht allzu viel zu tun haben. Ein paarmal fiel es Winberg schwer, die Vorstellung aufzugeben, sie werde im nächsten Moment aus einem Zimmer zu ihm kommen; dann beobachtete er sich, wie er lächelte und gerade dabei war, die Erinnerung an den Anruf, an das Krankenhaus und die Polizeistation wie eine dumme Einbildung abzuschütteln.
Als er, eigentlich grundlos, die Toilette betrat, spürte er, dass er sich gleich würde übergeben müssen. Danach spülte er den Mund aus und steckte sich eine von Christines Zigaretten an. Er hatte sich jetzt derart aus dem Griff verloren, dass er sich kaum mehr entsinnen konnte, was mit dem Rauch zu machen sei, den er in Mund und Lungen hatte. Er stellte sich ans Schlafzimmerfenster, als ob es von hier aus eine Aussicht zu genießen gäbe, und beobachtete auf der abgezirkelten Wiese ein paar spielende Kinder, bunte Punkte, die einem noch kleineren Punkt, einem Ball, nachjagten und sicher gleich von einem Hausmeister vertrieben oder von einem alten, gelangweilt auf Belästigung wartenden Mieter beschimpft werden würden.
Winberg wusste nichts mit sich anzufangen, alles war ihm aus der Hand genommen, er konnte nicht einmal danach fragen, was nun zu tun sei, nur noch danach, was war; und jede Antwort, die ihm gegeben werden könnte, würde ihm maßlos lästig sein oder ihn beunruhigen oder nicht genügen und Anlass geben zu neuen Fragen. Er hatte Angst, dass dieser Zustand so bald nicht enden würde, sollte Christine jetzt sterben.
Als er wenig später in der Firma anrief, um die Fragen zu beantworten, wo er denn geblieben und warum er nicht wiedergekommen sei, bat er kurz angebunden um eine Woche Urlaub.
Wofür brauchen Sie den? Wir stecken mitten in einer entscheidenden Phase, erinnerte ihn die Stimme am Telefon, von der er jetzt nur wusste, dass sie das Sagen hatte.
Unbezahlt, sagte Winberg ins Blaue hinein. Mir reicht eine Woche unbezahlter Urlaub.
Er erhielt ihn, zusammen mit ein paar überflüssigen Bemerkungen seines Abteilungsleiters. Dann setzte sich Winberg in einen Sessel, ein leeres Glas in der Hand, in das etwas einzuschenken er vergessen hatte. Ihm graute vor den vielen Tagen allein mit sich. Aber es war ihm, als wäre etwas zu tun, das vielleicht so lange bräuchte, getan zu werden.
2
Am nächsten Morgen, nachdem er ein belangloses Telefongespräch mit Christines Arzt geführt hatte, machte sich Winberg mit dem Auto auf den Weg. Krygers Klinik, deren Adresse er aus dem Telefonbuch kannte, bestand aus vier großen Gebäuden im Stil klinkergemauerter, strohgedeckter Ostfriesenhäuser. Sie standen wie zufällig verstreut, zwischen dichten Bäumen und Buschwerk in einem umfänglichen Grundstück. Winberg ließ den Wagen stehen und schlenderte durch ein mit Sorgfalt und Raffinement arrangiertes Stück künstlicher Natur, in dem die Vögel sangen und ab und zu ein Frosch Laut gab, als wäre dies alles extra bestellt, als gehorchten Tiere, Pflanzen und der Wind dem Dirigat eines verborgenen Majordomus. Am Hauptgebäude, zu dem ein breiter, leicht gewundener Kiesweg führte, war eine Überwachungskamera versteckt, und auch die reich verzierten, unbezwingbaren Gitter vor manchen Fenstern des Erdgeschosses entgingen Winberg nicht.
Eine Art Empfangsdame saß hinter einem breiten Massivholztresen inmitten eines Waldes aus üppigen Grünpflanzen und trank mit edler Bewegung aus einer Tasse. Sie fragte er wie beiläufig nach Doktor Kryger.