Der Hungerturm. Michael ThumserЧитать онлайн книгу.
zu ihm. Sie erbot sich noch zu telefonieren. Winberg aber lehnte rasch ab und entfernte sich mit ein paar Ausreden in eine der seitab führenden Lauben, wo er sich zwischen Gruppen wartender Besucher und Patienten schob, die in Bademänteln rauchten.
Auf einem Wegweiser fand er Krygers Zimmernummer. Vor der Tür fühlte sich Winberg mit einem Mal ausgeleert und ratlos. Mit beklommenem Atem setzte er sich auf einen Stuhl und wartete; dann beobachtete er einen Arzt und eine Sekretärin, die nacheinander das Zimmer betraten. Winberg stand auf, näherte sich der Tür und lauschte, sobald er sich selbst unbeobachtet fühlte. Innen wurde gesprochen, in dunklen, dumpfen Worten, die Winberg nicht verstand. Dann senkte sich die Klinke, und einen Augenblick später, gerade als Winberg sich abgewandt hatte und langsam einige Schritte weiter ging, trat hinter dem Arzt und der Sekretärin ein älterer, mittelgroßer und schlanker Mann mit frischem, lebendigem Gesicht heraus, der sich bei seinen Begleitern knapp nach diesem und jenem erkundigte und mit leicht gesenktem Kopf Antworten entgegennahm. Winberg ging den dreien nach und sah zu, wie nach kleiner Pause der Ältere, ganz offensichtlich Doktor Kryger, dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter legte, nickte und ihm ein paar Worte sagte, die der andere mit auffälliger Erleichterung aufnahm.
Nein, hörte Winberg Kryger dann sagen, ich fahre übermorgen trotzdem, bleibe aber am Wochenende in Notfällen übers Handy erreichbar. Sie wissen ja, wo. Und er nannte den Namen eines Hotels in einem der kleineren Seebäder. Winberg, der dort vor Jahren beruflich zu tun hatte, kannte es: für Wochenendausflüge ein beliebtes Ziel und in gut einer Autostunde erreichbar.
Winberg betrat die Cafeteria erst eine Minute nach den anderen. Mit ein paar Blicken hatte er ausgemacht, wo sie saßen. Dann mischte er sich in eine der kurzen Reihen von Wartenden vor den Schaltern und ließ sich, als er gefragt wurde, eine Cola geben. Er setzte sich unscheinbar zu einem plaudernden Pärchen und sah von der Seite zum Tisch der anderen hinüber.
An Doktor Kryger war vieles, was sich Winberg unangenehm aufdrängte. Vom ersten Augenblick an störte ihn seine makellose Erscheinung, die Kleidung, an der alles stimmte, eins zum anderen sich fügte, alles zueinander passte: die vornehmen Streifen in der Krawatte zum diskreten Muster des weichen Anzugs zur Geschmeidigkeit des Schuhleders zur Frische des Hemdes zum zurückhaltenden Glanz der Ringe, die er an beiden Händen trug. Der Körper des Mannes schien zweitrangig, zum Anzug hinzuerfunden: das weißgraue, noch volle und gepflegte Haar, der von pfiffiger, vielleicht bissiger Intelligenz klein und scharf gewordene Blick, die eng anliegenden, noch ziemlich kleinen Ohren, die gewölbte, eine Spur zu voluminöse Nase, die dem Gesicht unverwechselbaren Charakter gab. Winberg begann, jede von Krygers Bewegungen zu verabscheuen, die sich grazil, aber nicht affektiert gaben, genau bemessen, niemals hastig, fehlerlos. Als Kryger an diesem Tisch der Klinikkantine Kaffee aus einem Pappbecher trank, tat er das so, wie Winberg in einer exklusiven Bar einen teuren Drink zu sich genommen haben würde.
Winberg spürte: da war nichts, das ihn und Kryger einander näher bringen könnte, keine gemeinsame Gewohnheit, nichts von beiden Wertgeschätztes, auch nichts, das sie vereint ablehnten, nicht ein einziges Wort ihrer beiden Sprachen. Kryger würde ihm viel zu fremd bleiben, als dass er ihn je würde hassen können. Und Winberg, seine Wahrnehmungen sortierend, bemühte sich sofort darum, sich darauf einzustellen.
Wenig später, als Kryger und die beiden andern die Cafeteria verließen, kamen sie an Winbergs zwischen die Schultern gezogenem Kopf vorüber. Sie sprachen gerade über den Unfall vom Vortag. Kryger nannte ihn ein bedauerliches Unglück, erwähnte das arme Opfer, das für einen Augenblick der Unaufmerksamkeit eine schreckliche Strafe zahlen müsse. In seiner Stimme schwang – nicht ganz echt? – der Ton einer inneren Bewegung, mit der er begonnen zu haben schien, ohne sie je zu Ende bringen zu wollen. Der jüngere Arzt bemühte sich sichtlich um die Worte seines Chefs und bedauerte im Weggehen die Schwierigkeiten, die sich für Kryger aus dem Ganzen ergeben hätten, und die Verlegenheit auch des Mediziners, der nicht überall Hilfe leisten könne, wo er sie spenden wolle.
Winberg legte das Gesicht in die Hände. Während Christine bewusstlos in einem kastenförmigen Bett inmitten elektronischer Apparate lag, die ihr Leben bestärken und, sobald nötig, ersetzen sollten, konsolidierte sich hier die unverbrüchliche Kameradschaft der Unbeteiligten, durch die Erleichterung geeint, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Ihre dienstliche Sprache setzte den interesselosen Erinnerungen die Maske der Geschäftigkeit auf, des innerlichen Engagements und der Bestürzung über das unverdiente Leid eines anderen. Die Gesichter verzogen sich gerade so wie bei der Rundfunknachricht von einer mittleren Katastrophe irgendwo im Lande oder weit weg auf der Welt, mit einer gewissen Anzahl von Todesopfern und Schwerverletzten. Die Stimmen bedeckten sich soweit, dass man gerade noch begreifen konnte, es sei nicht schön, was andernorts geschah an schlimmen Dingen. Die Gesichter, die dergleichen daherlogen, schienen sich für Winberg von einer Sekunde auf die andere mit abstoßender Haut zu überziehen, hässlich wie das abgehandelte Ereignis selbst.
Eine nicht mehr junge Schwester empfing ihn, sie war von Arbeit und Verantwortung niedergedrückt und strahlte klinische Sauberkeit aus wie einen Vorwurf gegen Winbergs abgetragene Jacke und staubige Schuhe. Mit müdem Gesicht teilte sie ihm mit, dass der Stationsarzt nicht zu sprechen sei; Christine lag noch auf der Intensivstation.
Sie hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, sagte die Schwester. Er könne noch nicht zu ihr hinein.
Aber durch eine Glasscheibe durfte er sehen: auf ihr entstelltes und geschundenes Gesicht unter dem Turban des Kopfverbands, auf die Leitungen von Maschinen, auf die Schläuche in den Körper hinein und aus ihm heraus, auf das simultane stumme Wandern gezackter Lichtkurven über einen Bildschirm. Sein Blick wartete eine Weile darauf, dass Christines bräunliche, perlmuttern schimmernde Augenlider sich bewegten.
Wie ist ihr Zustand?, fragte Winberg.
Stabilisiert, antwortete die Schwester und sah ihm in das an den Wangen eigentümlich verschobene Gesicht, das sie jetzt mehr interessierte als die seit einem Tag unveränderten Züge der Patientin.
Hat es Sinn, auf den Doktor zu waren?, fragte er.
Die Schwester schüttelte den Kopf. Telefonieren Sie mit ihm, riet sie. Später.
Noch ein Blick in Christines Gesicht. Winberg hätte helfen mögen, sie waschen, das Bett richten, oder nur bei ihr wachen und darauf achten, dass die Lichtlinien nicht aufhörten, über den Bildschirm zu flattern. Aber derlei Beistand war nicht gefragt. Besondere Menschen hatten hier den Auftrag dazu; Menschen, die durch nichts zu denen gehörten, denen sie helfen sollten. Für einen Moment suchte Winberg ein Opfer für den Funken Hass, der ihm gerade zur Verfügung stand. Aber nach wem er auch Ausschau hielt: er fand nur welche, die nichts dafür konnten, jeder auf seine Art. In seinem Kopf hieß es jetzt wenigstens: dran bleiben. Am Leben dieses Krygers teilnehmen von außen. Es ansehen, wenn es schon nicht zu verstehen war.
Am folgenden Morgen machte Winberg Krygers Wohnung ausfindig, fuhr hin und folgte ihm, als er aus dem Haus trat und fortfuhr, mit dem Auto in die Klinik; wartete dort zwei Stunden, bis Kryger wiederkam; ging hinter ihm her weiter ein paar Straßen in Richtung der Innenstadt in einen Park; blieb dort eine Viertelstunde lang etwa zwanzig Meter von ihm entfernt auf einer Bank sitzen, solange Kryger in einer Zeitung las; folgte ihm dann durch die Anlage in ein dahinter gelegenes Wohnviertel mit herrschaftlichen, kostspielig renovierten Mietshäusern hinter reich verzierten Fassaden aus der vorletzten Jahrhundertwende; wartete, bis Kryger aus einem der Häuser wieder herauskam, in dem er offensichtlich jemanden besucht hatte – einen Patienten, eine Geliebte? –; blieb dicht hinter ihm, solange er durch eine Reihe engerer, winkliger Sträßchen und Gassen der Altstadt ging; und ließ endlich den Abstand zu Kryger wieder größer werden, als sie auf einen weiten, übersichtlichen Platz traten, an dessen einer Seite eine große Kirche stand. Nachdem Kryger über einige flache Stufen aus dem Sommerlicht im fast abweisend dunklen Portal verschwunden war, lehnte Winberg sich an eine Laterne, legte einen Fuß über den anderen und entspannte sich endlich. Jetzt könnte er überlegen: ob er hier warten solle; ob er Kryger in die Kirche folgen oder ob er einfach fortgehen solle; was überhaupt er von Kryger wollte, ob er eine Aussprache erwarte oder gar so etwas wie eine Entschuldigung; ob es ihm genügen würde, in Krygers Gesicht zu schlagen oder ihn anzuspucken; oder ob er ihn nur fragen wollte, was vorgefallen sei – von alledem hatte Winberg nicht die