Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
wenig Englisch, und im Augenblick fiel ihr kein einziges Wort ein. »Nick, ich habe sie gefunden!«, rief sie und stand wieder auf.
Daisy blieb sitzen. Sie zog ihre Beine an und presste ihre Stirn auf die Knie. Ihr Weinen wurde lauter.
»Sie ist schrecklich unglücklich«, flüsterte Pünktchen ihrem großen Freund zu. »Und mir fällt kein einziges englisches Wort ein. Sag ihr doch, dass wir ihr helfen wollen.«
Nick versuchte Daisy nun auf seine Weise zu trösten, aber sie wollte sich nicht trösten lassen. Wütend blitzte sie ihn an und rief: »Jeremy ist gemein! Er weint überhaupt nicht um unsere Mummy.«
Sinngemäß verstand Nick ihre Worte. Er übersetzte sie Pünktchen. »Mummy heißt Mutti«, fügte er noch hinzu. »Ich werde ihr jetzt sagen, dass sie Jeremy doch nicht immerzu an den Tod seiner Mutter erinnern soll.«
»Ja, das musst du ihr klarmachen. Jeremy ist doch erst vier. Und seine Mummy wird deshalb auch nicht mehr lebendig.«
Nick redete etwas stockend auf Daisy ein. Er war stolz darauf, dass er von dem kleinen Mädchen tatsächlich verstanden wurde.
»Jeremy ist zum Trauern nicht zu klein«, erwiderte Daisy verstockt. »Ich gehe jetzt zu Daddy und sage ihm, dass wir gehen wollen. Ich mag euch alle nicht!«, rief sie wütend und lief wieder davon.
»Sie ist ein komisches kleines Mädchen«, sagte Nick mit einem tiefen Seufzer zu Pünktchen. »Komm, wir wollen sehen, ob sie den Weg zum Haus zurück auch findet.«
Roy fiel ein Stein vom Herzen, als er seine Tochter unversehrt wiedersah. Er war so erschöpft und mit seinen Nerven am Ende, dass er Denises Einladung, mit seinen Kindern in Sophienlust zu bleiben, bis alle Formalitäten zur Überführung seiner Frau nach England geregelt waren, fast erleichtert annahm.
Renate brachte ihn zu dem Gästezimmer. Bevor sie ihn verließ, versprach sie ihm, sich um seine Kinder zu kümmern.
Roy sah sie dankbar an. Dabei stellte er fest, dass sie liebe Augen hatte und eine beruhigende Wärme ausstrahlte.
Dann war er zum erstenmal seit der furchtbaren Gewissheit vom Tod seiner Frau ganz allein. Erinnerungen an seine glückliche Ehe tauchten wie Schemen vor seinen Augen auf. Er sah Mary und sich am Tag ihrer Hochzeit, zu der fast die ganze Umgebung gekommen war. Mary hatte ein wunderschönes weißes Spitzenkleid mit einem weiten angereihten Rock und einer enganliegenden Taille getragen. Ihre Wangen waren gerötet gewesen, ihre schönen Augen hatten vor Glück geglänzt. Roy hatte ihren schmalen Rücken unter seiner Hand gefühlt, als er sie über den Tanzboden geführt hatte. Federleicht war sie gewesen. Ihre vollen Lippen hatten sich beim Tanz geteilt, sodass er ihre schimmernden Zähne gesehen hatte. »Ich will dich jetzt küssen«, hatte er gesagt.
»Tu es doch!« Sie hatte ihn herausfordernd angelacht. »Es ist doch unser großer Tag.«
Er hatte sie geküsst vor allen. Ein Tusch der Kapelle hatte sie wieder in die Gegenwart zurückgebracht. Die Gäste hatten vor Begeisterung geklatscht.
Dann dachte Roy an den Tag, an dem sie ihm gesagt hatte, dass sie ein Kind bekommen würden. Er war außer sich vor Freude gewesen. Sie hatten Pläne geschmiedet. Eigentlich hatten sie immer Zukunftspläne geschmiedet. Da sie nicht mit großen Gütern gesegnet gewesen waren, hatte Mary die Hausarbeit stets selbst besorgt. Manchmal war die alte Barbara gekommen, um ihr zu helfen. Barbara war in jungen Jahren Witwe geworden und lebte seitdem allein in dem kleinen Haus, das am Rande von Alvery stand. Trotz ihres Alters ging sie oft den weiten Weg bis zu den einzelnen Farmen. Jeder freute sich über ihr Kommen. Mary aber hatte Barbara wie eine Mutter geliebt.
Roy sank aufs Bett. Nun konnte er sich endlich seinem Schmerz hingeben. Er weinte so hemmungslos wie ein kleiner Junge. Noch immer konnte er nicht fassen, dass Mary nie mehr zu ihm zurückkommen würde. Was kümmerte ihn der Rest seines Lebens? Das Licht in seinem Herzen war erloschen. Mary hatte den Glanz der Sonne, den grünen Schimmer der Bäume, den Duft der Wiesen mit sich genommen.
Ein Klopfen an der Tür riss Roy aus seinem Schmerz. Er erhob sich schwerfällig und ging zur Tür. Jeremy stand davor.
»Schwester Renate hat mir gesagt, dass du hier bist, Daddy«, sagte der Junge aufgeregt. »Daddy, Daisy ist so böse zu mir. Sie sagt, ich soll weinen. Aber ich kann doch nicht mehr weinen. Ich möchte gern bei den Kindern bleiben. Alle sind sie so lustig. Daisy hat mich nicht mehr lieb. Ich möchte zu meiner Mummy.«
Roy hob seinen Sohn hoch und küsste ihn liebevoll. »Jeremy, deine Mummy ist jetzt beim lieben Gott im Himmel. Sie schaut aber auf uns beide herunter. Sie möchte auch, dass du wieder fröhlich wirst.«
»Wirst du auch wieder fröhlich sein?« Jeremy fuhr neugierig über die Lider seines Vaters. »Hast du auch geweint, Daddy?«, fragte er jetzt mitfühlend.
»Ja, Jeremy, ich habe auch geweint. Du, Daisy und ich, wir müssen jetzt versuchen, ohne Mummy fertig zu werden.«
»Ja, Daddy. Nicht wahr, ich darf nachher mit dem Mädchen, das so viele Sommersprossen hat, und dem kleinen Mädchen, das ich zuerst kennengelernt habe, zu den Ponys gehen?«
»Das darfst du.«
Daisy stürmte ins Zimmer. »Ich mag es aber nicht, dass wir hierbleiben!«, rief sie. »Ich mag es nicht!«
»Daisy, bitte, schrei nicht so«, bat Roy matt. »Ich habe die Gastfreundschaft von Frau von Schoenecker gern in Anspruch genommen. Es gibt noch viel für mich zu erledigen.«
»Dann soll Jeremy aber nicht mehr zu den anderen Kindern gehen, Daddy. Er soll bei uns bleiben.«
»Aber Daddy hat mir schon erlaubt, mit den Kindern zu den Ponys zu laufen«, trumpfte Jeremy auf. Dass Daisy gar nicht lieb zu ihm war, kränkte ihn schwer.
»Lauf nur, mein Junge. Daisy, bitte, sei vernünftig. Wir bleiben höchstens zwei Tage hier.«
Daisy sah ihn tieftraurig an. Dann ließ sie ihn wieder allein.
Wieder kehrten Roys Gedanken zu Mary zurück. Wieder rief er sich kleine glückliche Episoden aus der Zeit mit ihr ins Gedächtnis zurück.
Daisy lief währenddessen durch das große Parktor auf die Straße hinaus. Sie wollte zu ihrer Mummy. Ohne Schwierigkeiten fand sie den Weg zu der Wildmooser Kirche. Als sie eintrat, achtete sie nicht auf ihre Landsleute, die gekommen waren, um ihre Lieben zu identifizieren. Sie kniete vor dem Sarg ihrer Mutter nieder, faltete die Hände und betete: »Liebe Mummy, ich weiß, dass du jetzt im Himmel und ein Engel bist. Aber es ist furchtbar, dass ich dich nie mehr sehen kann, dass ich nie wieder etwas zu dir sagen kann. Aber vielleicht hörst du mich trotzdem. Jeremy ist noch zu klein, um zu verstehen, dass du für immer von uns fortgegangen bist. Er glaubt bestimmt, dass du wiederkommst. Es tut mir leid, dass ich ihn beschimpft habe. Du hast uns doch beim Abschied am Bus gebeten, sehr lieb zu Jeremy zu sein, weil er noch so klein ist. Mummy, sei mir nicht böse.«
Daisy schluchzte laut auf. Die Kirche hatte sich inzwischen geleert. Niemand hatte es übers Herz gebracht, die stille Trauer des kleinen Mädchens zu stören.
Als Daisy den Kopf hob, waren die Schatten schon länger geworden. Ein letzter Sonnenstrahl fiel durch das bunte Fenster mit den heiligen Figuren.
Dann hörte Daisy ein Geräusch. Sie drehte sich um und erblickte den Pfarrer am Altar. Impulsiv lief sie zu ihm hin und fragte: »Nicht wahr, meine Mummy ist jetzt als Engel im Himmel?«
Der Pfarrer beherrschte die englische Sprache genauso gut wie seine Muttersprache. Er nickte und erwiderte: »Ja, mein Kind, sie ist jetzt im Himmel. Der liebe Gott hat sie zu sich geholt, weil sie zu gut für diese Welt war.«
»Ja, meine Mummy war sehr gut. Das haben alle Leute immer gesagt. Sie hat keinem Menschen und auch keinem Tier etwas zuleide getan. Aber warum können wir Menschen unsere lieben Toten nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihnen sprechen?«
»Mein kleines Mädchen, das können wir doch. Wir müssen uns nur beim Beten ganz auf sie konzentrieren. Dann fühlen wir ihre Nähe.«
»Das will ich tun.« Daisy kam sich sehr erwachsen vor,