Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
das ihr schon so vertraut war: »Muttichen!«
Francos Augen weiteten sich verblüfft.
»Erklären Sie es ihm, Dr. Gottschalk«, sagte Julia rasch. »Ich gehe zu Dodo.«
*
Dodo streckte die Arme nach ihr aus. Julia hatte die Tischlampe brennen lassen, sie aber abgedunkelt. Sie konnte sehen, wie sehnsüchtig die Augen des Kindes leuchteten.
»Ich höre eine fremde Stimme«, sagte Dodo. »Ist Besuch da?«
»Ja, ein Bekannter«, erwiderte Julia.
»Großväterchen hatte fast nie Besuch. Nur Tante Isi hat manchmal mit ihm Tee getrunken. War das anders, als du noch bei uns warst, Muttichen?«
»Dodo, mein Kleines, ich war nie bei euch«, sagte Julia mit belegter Stimme.
Dodo reagierte ganz anders, als sie erwartet hatte. Ein sinnender Ausdruck kam in ihre Augen.
»Du hast es vergessen«, sagte sie leise. »Es wird so gewesen sein wie bei Hinnerk. Er hatte auch sein Gedächtnis verloren. Frag Onkel Harald. Er hat ihn wieder gesund gemacht. Hinnerk konnte sich auch an nichts mehr erinnern, als er an Land geschwommen war, und du bist viel länger geschwommen. Wie lange eigentlich?«
Julias Kehle wurde eng. Mit Tatsachen konnte sie Dodo nicht beikommen, das fühlte sie. Das Kind war zu sehr verstrickt in ihre Gedanken. Sie suchte für alles, was sie sagen würde, eine eigene Erklärung. Aber vielleicht ließen sich die Probleme lösen, wenn sie darauf einging.
»Nein, ich kann mich an nichts erinnern, Dodo«, erklärte sie.
»Auch nicht an mich?«
»Nein, auch nicht an dich.«
»Hinnerk hat mich zuerst auch nicht erkannt. Er wollte mich erst gar nicht sehen. Du wirst dich an alles erinnern, wenn du das Haus wieder
siehst, Großväterchens schöne Sachen und das Meer. Oder willst du das Meer nicht wiedersehen? Bist du deshalb nicht zurückgekommen? Ich habe auch immer ein bisschen Angst vor dem Meer gehabt, aber nur, weil ich geglaubt habe, dass es dich verschluckt hat. Hinnerk hat immer gesagt, dass nur Männer auf See sterben.«
»Manchmal auch Frauen, Dodo«, sagte Julia.
»Nie ist bei uns eine Frau auf See gestorben«, sagte Dodo sehr bestimmt. »Und du hattest doch eine Schwimmweste. Ich weiß, dass du eine hattest und auch einen Rettungsring. Du wirst dich schon wieder an alles erinnern«, fügte sie zuversichtlich hinzu.
Eine lähmende Angst überfiel Julia. Sie nahm Dodo in die Arme und drückte sie an sich. »Ich heiße Julia Pahlen und lebe schon lange hier«, sagte sie fast beschwörend, spürte aber zu ihrem Erschrecken, dass ihre Stimme gar nicht überzeugend klang.
»Mir ist es ganz gleich, wie du heißt«, sagte Dodo, »und wenn du dich auch gar nicht mehr erinnern kannst, ist es mir auch gleich. Ich habe dich wieder.«
Eine Ahnung keimte in Julia, dass ihr Leben fortan mit dem des Kindes verstrickt sein würde, denn sie konnte sich nicht von dem Bann befreien, in dem sie gefangen war, als die weichen Lippen sich an ihre Wange pressten.
»Du bist noch viel schöner als früher«, flüsterte Dodo, »aber dein Haar ist noch genau so.«
*
»Na, Muttichen?«, fragte Franco ironisch, als sie wieder das Zimmer betrat. Julia sah nicht ihn an, sondern Harald, und sie bemerkte, wie sich sein Gesicht versteinerte.
»Spotte nicht«, sagte sie ungehalten. »Mir ist nicht danach zumute.«
»Du darfst es nicht auch noch komplizieren, Julia«, sagte Franco mahnend. »Dr. Gottschalk hat mir die Geschichte erzählt. Ich begreife dein Mitgefühl mit diesem kleinen Geschöpf, aber…« Er unterbrach sich.
»Aber!«, fragte Julia. »Nun weißt du wohl auch nicht weiter? Ich auch nicht. Ich habe versucht, Dodo begreiflich zu machen, dass ich nicht ihre Mutter bin, aber sie nimmt es nicht zur Kenntnis.« Sie sah wieder Harald an, dessen Wangenmuskeln in unterdrückter Erregung zuckten. »Sie hat von Hinnerk gesprochen, der sein Gedächtnis verloren hatte«, fuhr sie fort. »Und nun meint sie, dass ich mein Gedächtnis auch verloren habe.«
»Ein interessanter Fall«, warf Franco ein. »Die Psychologin fühlt sich auf den Plan gerufen.«
Julia warf ihm einen flammenden Blick zu. »Nicht die Psychologin. Die Frau«, erwiderte sie.
Francos Gesicht verdüsterte sich. »Julia ist eine Kindernärrin«, sagte er zu Harald. »Da haben Sie eine fatale Situation heraufbeschworen.«
»Er hat gar nichts«, sagte Julia kühl. »Es wäre besser, wenn du mich mit Dr. Gottschalk allein lassen würdest, Franco.«
»Wie du wünschst«, sagte Franco lässig. »Ich denke, dass du wieder vernünftig werden wirst, wenn dein Besuch morgen fort ist.«
»Ich bedaure das alles sehr«, sagte Harald gequält. »Ich sollte mit Dodo lieber in ein Hotel gehen.«
»Aber nein«, sagte Franco leichthin. »Julia würde es mir nie verzeihen, Sie verjagt zu haben.«
»Das kannst du nicht. Es ist mein Haus«, erklärte Julia aggressiv.
Es kam ihr vor, als hätte sie Franco noch nie so nüchtern betrachtet wie jetzt, und was sie sah, gefiel ihr plötzlich nicht mehr.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und Harald sagte: »Es tut mir wirklich leid.«
Julia warf den Kopf zurück. »Herrgott, können Sie nichts anderes sagen, als dass Sie es bedauern und es Ihnen leid tut, hier zu sein?«
»Ich bereite Ihnen nur Unannehmlichkeiten«, sagte er schwerfällig.
»Weil Franco in seiner männlichen Eitelkeit gekränkt ist, über meine Entscheidungen nicht bestimmen zu dürfen?« Sie lachte auf. »Ich bin nicht mit ihm verheiratet. Und selbst dann würde ich meine Entscheidungen selbst treffen.«
»Aber Sie wollen ihn doch heiraten«, stieß Harald hervor.
Ihre Augen verdunkelten sich. »Vielleicht«, erwiderte sie ausweichend. »Dodo ist jetzt wichtiger. Sie werden sich entschließen müssen, mir alles zu erzählen.«
»Ich werde morgen mit Dodo Ihr Haus verlassen«, sagte Harald. »Wozu wollen Sie sich noch mehr mit dem Schicksal des Kindes belasten?«
»Sie sind Arzt«, sagte Julia betont, »und wenn ich auch noch nicht viel praktische Erfahrung in meinem Beruf habe, so weiß ich doch soviel, dass Dodo einen seelischen Knacks davontragen könnte, der nicht wieder zu beheben ist, wenn ich sie einfach gehen lasse, wenn ich sie von mir schiebe, als wäre nichts gewesen. Wir müssen das verhindern. Wir beide gemeinsam, Herr Dr. Gottschalk, wenn Ihnen etwas an diesem Kind liegt.«
»Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte er leise.
»Noch weiß ich es nicht. Wie lange kennen Sie Dodo?«
»Seit ihrer Geburt.«
»Dann erzählen Sie mir alles von diesem Tag an, jede Kleinigkeit, an die Sie sich erinnern können.«
Sie hätte ihm nicht erklären können, warum sie dies alles wissen wollte.
*
Harald konnte sich nicht erinnern, jemals soviel geredet zu haben wie an diesem Abend, der nun schon längst in die Nacht überging. Nicht ein einziges Mal unterbrach ihn Julia.
Sie hatte eine Flasche Wein geholt, schweigend Gläser auf den Tisch gestellt und sich wieder, ihm gegenüber, in ihrem Sessel niedergelassen.
Seine Gehemmtheit hatte sich gelöst, auch sein Gesicht war entspannt. Es verwirrte ihn nicht mehr, als sie ihn unverwandt anblickte. Wenn ihre Blicke sich trafen, hielt er inne und ließ Sekunden verstreichen, bis er fortfuhr.
Es war ihm, als würde er sie lange kennen, und er spürte den brennenden Wunsch, dass diese Nacht nie ein Ende nehmen möge. Er war sich bereits völlig