Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman. Friederike von BuchnerЧитать онлайн книгу.
dort in den Zug zu steigen und die Heimreise anzutreten. Ein Urlaub ohne Auto, das bedeutete eine größere Freiheit für Markus. Markus schaute aus dem Zugfenster und genoss den Anblick der Landschaft. Bis zum Abend würde er nach zweimaligem Umsteigen in Kirchwalden ankommen. Dann war es nicht mehr weit bis Waldkogel und zur Berghütte.
*
Tina kuschelte sich in ihr Federbett. Obwohl hochsommerliche Temperaturen herrschten, fror sie. Es war der Schock, unter dem sie stand. Wie lange werde ich noch hier in meinem Zimmer sein können? Sie legte sich auf den Rücken und schaute an die Decke. Durch die Balkontür fiel das Mondlicht in den Raum. Die fast schwarzen Deckenbalken hoben sich gegen die weißen Deckenflächen ab, die dazwischen lagen. Mit den Augen streichelte Tina das dunkle Holz. Sie wusste, dass vor vielen Jahrhunderten einer ihrer Urgroßväter das große Haus mit eigenen Händen gebaut hatte. Wie fest waren die Balken, wie gut das abgelagerte Holz, das er verwendet hatte! Er hatte das Haus gebaut, als sei es für die Ewigkeit, dachte Tina. Für viele, viele Generationen sollte es Schutz geben und Heimat sein in den Stürmen des Lebens. Und jetzt sollte es vorbei sein. Bald sollte sie unter einer glatten Decke aus Stahlbeton schlafen. Nie mehr würde sie das Knacken des Holzes hören. Als Kind hatte sie sich vor den Geräuschen gefürchtet. Besonders wenn die Winterstürme Waldkogel heimsuchten, dann knackten überall im Haus die alten Balken. Tinas Großmutter hatte damals das kleine Mädchen schützend in den Arm genommen und ihm gesagt, dass es keine Angst haben muss, das alte Haus würde auf diese Weise mit den Bewohnern reden. Es würde flüstern, habt keine Angst. Ich gebe euch Schutz. Ich bin stark und stehe fest. Kein Sturm kann mir etwas anhaben, unter meinem Dach seid ihr sicher. Tinas Großmutter hatte lange mit ihrer Enkeltochter geredet. Sie sprach über das Leben und über die Stürme, die in den Alltag hereinbrechen konnten. Tina hörte in ihrem Innern die tröstlichen Worte ihrer Großmutter.
»Madl, solange du eine Heimat hast, einen Platz, an dem du willkommen bist, kann dir nichts und niemand etwas anhaben. Heimat ist wie ein schützender Mantel der Liebe, voller Kraft und Geborgenheit. Der Platz, hier unter diesem Dach, wird dir immer Zuflucht sein und Heimat, Tina. Gleich, was das Leben für dich bereit hält und wie groß die Steine sind, die dir in den Weg gelegt werden, hier bist du immer willkommen und beschützt. Du trittst durch die Tür, machst sie hinter dir zu und bist nur noch von Liebe umgeben.«
Tina hatte der Großmutter die Geschichte geglaubt und gemeint, das alte Haus sei ein liebes Haus. Da hatte Tinas Großmutter weise gelächelt und gesagt: »Ja, das ist es, ein liebes, altes Haus. Du musst auch immer lieb zu ihm sein, dann wird es dir keinen Kummer machen und dir immer Schutz und Heimat sein. Weißt du, Tina, Häuser werden auch alt, sie bekommen Schäden, das ist wie bei Menschen. Wenn die Leut’ alt werden, bekommen sie Falten. Bei bösen Menschen sehen die Falten schlimm aus, und sie machen Angst. Bei fröhlichen und lieben Menschen ist das anders, da spielen die Falten im Gesicht keine Rolle. Ganz im Gegenteil, sie vermitteln Güte und Fröhlichkeit und man weiß, wenn man einem solchen Menschen ins Gesicht schaut, dass man ihm vertrauen kann. Er ist ein lieber Mensch und wenn er alt ist, wird er versorgt und man kümmert sich um ihn. Um ein altes Haus muss man sich auch kümmern. Musst später darauf achten, dass kleine Schäden gleich behoben werden. Dann wird es nicht so schlimm, weder für die Menschen noch für das alte Haus.«
In der Kindheit wuchs Tinas Liebe zu dem alten Haus. Nach dem Gespräch mit ihrer Großmutter war Tina auf den Dachboden gegangen und hatte die alten Balken gestreichelt und leise geflüstert: »Bist ein gutes Haus. Ich mag dich, und ich wohne gern hier. Ich werde gut auf dich aufpassen.«
Während Tina sich in die Federn kuschelte und Trost suchte, erinnerte sie sich an viele Dinge aus ihrer Kindheit. Da wurde der Kachelofen innen neu ausgemauert, der Brunnen tiefer gebohrt, die Trittbretter der Stiege neu gefertigt, weil sie im Lauf der Jahrhunderte zu sehr ausgetreten waren. Im Abstand von einigen Jahren strich ihr Vater die Fensterläden und die Fenster neu, ebenso die hölzernen Geländer an den Balkonen, die über die ganze Breite der Giebelseite liefen.
Tina stand auf. Sie schlüpfte in die Hausschuhe und warf sich ein Umschlagtuch um. Dann trat sie hinaus auf den Balkon. Sie schaute hinauf in den Himmel. Es war eine klare Nacht. Tausende Sterne leuchteten am Himmel. Es sah aus, als hütete der Vollmond in der Mitte eine Herde mit unzähligen Schäfchen und lächelte dabei. Tina schaute hinauf in Richtung des »Höllentors«.
War dort in der Dunkelheit eine Wolke zu erkennen?
Tina glaubte wie alle Waldkogler fest daran, dass schlimme Ereignisse sich durch eine dunkle Wolke über dem »Höllentor« ankündigten. Der Berg, der wegen seiner Gefährlichkeit für Wanderer und Bergsteiger gesperrt war, hatte seinen Namen »Höllentor« nicht von ungefähr. Der alten Mär nach befand sich auf dem Gipfel ein Tor zur Hölle. Immer wenn etwas Böses geschah, so sagte man in Waldkogel, kam der Teufel aus dem Tor und schaute voller Arglist auf das Dorf hinunter. Dann trat Rauch und Schwefel aus dem offenen Tor und bildete über dem Gipfel eine Wolke.
In der Nacht konnte Tina nichts erkennen. Sie erinnerte sich auch nicht, dass sie auf dem Heimweg von Kirchwalden eine schwarze Wolke über dem Gipfel gesehen hätte.
Tina zog ihr wollenes Tuch enger um die Schulter und schaute in die andere Richtung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tales ragte der andere Hausberg in den Himmel, der »Engelssteig«. Er hatte seinen Namen den Engeln zu verdanken, die nach dem festen Glauben der Waldkogeler jede Nacht vom Gipfel über eine unsichtbare Leiter hinauf in den Himmel stiegen. Sie brachten die Wünsche, Sehnsüchte und Gebete der Menschen ins Himmelreich hinauf. Tina hörte die Stimme ihrer Großmutter, so als würde sie neben ihr stehen: »Die Engel beschützen uns, Madl. Wenn du mal einen Kummer hast, gleich, ob es ein großer Kummer ist oder ein kleines Wehwehchen. Du kannst dich immer an die Engel wenden und ihnen alles erzählen. Sie werden dir zuhören und dein Anliegen im Himmel vortragen. Weißt, die Engel von unserem ›Engelssteig‹, die haben immer Vortritt beim Herrgott, wenn sie über uns hier in Waldkogel mit dem Herrn reden wollen.«
Tina faltete die Hände vor der Brust.
Hört, ihr Engel, ich bin’s, die Tina vom Gerstmair Hof. Mir ist es so weh ums Herz. Ich fühle mich so unverstanden und allein. Es geht um den Hof, des Haus mit allem, was dazu gehört. Ich will hier net fort, ich will bleiben und hier alt werden. Ich habe das Gefühl, als würde es mich zerreißen, als müsste ich sterben, wenn ich von hier fort muss. Ich weiß, dass das Unsinn ist, so etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Und eine Sünde ist es auch. Aber es tut so weh. Wie können mir die Eltern des antun? Außerdem besteht doch keine Notwendigkeit. Ihre Sorge um die Zukunft ist unnötig. Sicher haben sie es oft schwer gehabt und wünschen mir eine sorglosere Zukunft. Aber ich will keine Zukunft im Neubaugebiet. Ich will hierbleiben, hier in dem Haus, in dem ich geboren bin und meine Wiege stand. Helft mir, ihr Engel! Bitte, helft mir, bitte, bitte! Ihr versteht mich doch, denke ich. Ich bin bereit, alles zu tun, wenn ich nur hierbleiben kann. Bitte, bitte! Sagt dem Herrgott, dass er des Herz vom Vater und der Mutter anrühren soll, dass sie den Hof net verkaufen tun.
So schickte Tina lautlos ihre Gedanken hinauf zum Gipfel des »Engelssteigs«.
Sie lauschte in die Nacht hinaus, als müsste sie jeden Augenblick die Antwort hören. Stattdessen knurrte nur ihr Magen. Tina musste schmunzeln. Ich hätte beim Abendessen mehr essen sollen, dachte sie. Aber ich brachte kaum einen Bissen hinunter.
Tina entschloss sich, ihren Jogginganzug anzuziehen und sich unten in der Küche etwas zu essen zu machen. Sie machte in ihrem Zimmer Licht und öffnete den Schrank mit ihren Sportsachen. Da fiel ihr Blick auf den Rucksack, der auf der Hutablage im Schrank lag.
»Ich sollte einige Tage in die Berge gehen. Dort habe ich meine Ruhe und kann über eine Lösung nachdenken. Ich könnte zur Berghütte gehen. Toni und Anna hatten mich schon so oft zu einem Hüttenabend eingeladen, aber immer traf der auf einen Tag, an dem in der Steuerkanzlei viel zu tun war, so dass ich spät heimkam«, flüsterte Tina vor sich hin.
Sie riss den Rucksack herunter und packte ihn. Dann zog sie ihre Wandersachen an, eine lederne Kniebundhose, eine Hemdbluse, eine ärmellose wattierte Weste mit vielen Taschen. Zum Schluss zog sie die dicken, handgestrickten Socken an. Jetzt war ihr nicht mehr kühl. Sie band ihre dickere Lodenjacke auf den Rucksack und hob ihn auf die Schultern. Zum Schluss