Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman. Friederike von BuchnerЧитать онлайн книгу.
schwieg eine Weile. Er streichelte ihr den Kopf und zog ihn langsam zu sich, bis ihr Kopf an seiner Schulter lag.
Rosemarie fühlte sich geborgen. Es war ein neues Gefühl, das sie so nicht kannte. Ihr Herz raste.
»Gaudenz«, sagte sie nach einer Weile, »Gaudenz, ich muss dir seltsam vorkommen, wie? Ist es nicht sündhaft, wie wir hier zusammensitzen?«
»Nein! Ich bin davon überzeugt, dass wir zusammengefunden haben, weil eine höhere Macht es so vorgesehen hat. Und ich schwöre dir, dass ich dir niemals weh tun werde.«
Langsam und zögerlich fing Rosemarie an zu erzählen.
»Mir gefällt der Anblick von Waldkogel so gut, weil ich keine Heimat habe.«
»Wie soll ich das verstehen? Hat nicht jeder Mensch eine Heimat, ein zuhause?«
»Ich habe nur ein Zimmer für meine restlichen Sachen, wenn ich nicht unterwegs bin. Ich schlafe nur höchstens ein oder zwei Nächte dort, bis ich wieder zum Einsatz fahre. Es ist eine kleine Dachkammer in einem Altersheim des Bistums.«
»Und dein Elternhaus?«
»Verloren!«
»Verloren? Wie soll ich das verstehen? Kannst du mir das näher erklären?«
»Ich will es versuchen. Ich kann mich daran nicht erinnern. Ich weiß nur, was mir meine älteren Geschwister erzählt haben. Aber an vieles können sie sich auch nicht mehr erinnern.«
Rosemarie seufzte.
»Mein Vater war Manager. Er verdiente viel Geld. Es soll ein großes schönes Haus gewesen sein. Ich habe noch ältere Geschwister. Dann machte er schlimme Betrügereien, unterschlug viel Geld. Er hatte wohl viele Frauengeschichten. Jedenfalls wurde er verhaftet, kam ins Gefängnis und wurde später verurteilt. Meine Mutter verkaufte das Haus und bezahlte alles. Wir zogen in eine kleine Wohnung und meine Mutter ging arbeiten. Mein Vater reichte die Scheidung ein. Sie wurden geschieden. Es war für meine Mutter alles zu viel. Sie wurde schwer gemütskrank. Sie war zuerst lange in einem Spezialkrankenhaus, dann viele Jahre in einem Sanatorium. Wir Kinder kamen in verschiedene Waisenhäuer. Ich war noch ein Säugling und kam in ein Waisenhaus für Babys. Als ich größer war, durchlief ich viele Waisenhäuser. Es war schlimm. Der Makel des Verbrechens meines Vaters klebte an mir. Ich war das Kind eines Betrügers. Wenn jemand einen Streich ausheckte, dann fiel der Verdacht immer zuerst auf mich. Du verstehst?«
»Ja! Das ist ja schrecklich! Wie können Menschen nur so etwas tun?«
»Das habe ich mich auch oft gefragt, Gaudenz. Ich lernte schnell, vorsichtig zu sein. Ich lernte, dass Freundschaften nicht ewig halten und Anteilnahme und Zuneigung nicht von Dauer sind. Ich machte die Schule zu Ende und lernte anschließend Hauswirtschaft an einer Schule der Kirche. Bei meiner Vergangenheit musste ich immer besser, anständiger und fleißiger als andere sein.«
»Und du hast gelernt, eine Mauer um dich herum aufzubauen. Du bist sehr vorsichtig, jedem gegenüber.«
»Ja, ich habe viele schlechte Erfahrungen gemacht! Ich lebe ständig in der Angst, dass die Vergangenheit meiner Familie mich einholt. Ich vermeide es, Bindungen jeder Art einzugehen. Deshalb gefällt mir auch meine Arbeit so. Ich bin mal hier und dann im nächsten Monat dort. Ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles erzähle. Ich habe noch niemals mit jemandem darüber gesprochen. Ich bin ja auch nie lange an einem Ort.«
»Das willst du ein ganzes Leben machen? Immer aus dem Koffer leben?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich später in ein Kloster.«
»Das ist ein Gedanke, der mir nicht gefällt, Rosemarie!«
»So schlimm ist es im Kloster nicht. Man hat eine Heimat und weiß, wo man hingehört. Es wird für einen gesorgt. Keiner stellt unangenehme Fragen. Keine fragt nach der Familie.«
»Deine Mutter ist noch im Sanatorium und dein Vater im Gefängnis?«
»Nein! Mein Vater wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Er hat nur ein paar Jahre abgesessen. Er ging ins Ausland. Ich habe ihn nie gesehen, ich weiß es nur. Meine Mutter brauchte lange, bis sie wieder Lebensmut fand. Sie hat wieder geheiratet, einen Pfleger aus dem Sanatorium. Wir schreiben uns zu Weihnachten und zum Geburtstag. Ich sehe sie selten. Sie hat mit ihrem zweiten Mann noch einmal Kinder bekommen. Meine Halbgeschwister wissen nichts von der Vergangenheit. Das ist auch gut so. So, und jetzt weißt du alles. Ich bitte dich, niemand etwas davon zu erzählen.«
»Aber du kannst doch nichts dafür! Warum fühlst du dich schuldig? Du hast ein Recht auf ein eigenes Leben, Rosemarie.«
»Das ist einfacher gesagt als es ist, Gaudenz. Ich habe vor einem Jahr den Antrag gestellt, in ein Kloster aufgenommen zu werden. Ich hatte auch ein Gespräch mit der Oberin. Sie erschien mir sehr freundlich zu sein und voller Verständnis. Aber sie sagte mir ab – das sei nur vorläufig. Sie würde später noch einmal auf mich zukommen. Ich weiß nicht warum. Vielleicht denkt sie auch, dass ich ein schlechter Mensch bin.«
»So ein Unsinn! Wer war die Oberin? Welches Kloster war es?«
Rosemarie zögerte zuerst, dann nannte sie Gaudenz das Kloster und den Namen der Vorsteherin.
»Also, an dir kann es nicht liegen, Rosemarie. Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat bestimmt andere Gründe gehabt. Jedenfalls bin ich der Frau sehr dankbar, dass sie dich nicht genommen hat, sonst wären wir uns nie begegnet.«
»Das stimmt! Vielleicht finde ich später Aufnahme, in einigen Jahren.«
»Rosemarie, warum willst du unbedingt in ein Kloster eintreten? Das Leben bietet doch noch andere Möglichkeiten.«
Rosemarie richtete sich auf.
»Gaudenz, ich habe alles genau bedacht. Es gibt erstens wenig Möglichkeiten für mich, und zweitens kenne ich sonst auch keine.«
»Nun, du könntest dich verlieben und heiraten, eine eigene Familie haben und deinen Kindern all die Liebe geben, die du nicht bekommen hast.«
»Das hört sich schön an, Gaudenz. Aber niemand will eine Frau, deren Vater ein Verbrecher ist und deren Mutter gemütskrank war. Es ist ein Makel. Die Menschen denken, so etwas vererbt sich.«
»Das ist doch Schwachsinn, Rosemarie! Das ist hirnrissig! Jeder der so denkt, ist total deppert!«
»Das sagst du, Gaudenz! Ich habe viele Menschen kennengelernt, die so denken. Einige haben es mir ins Gesicht gesagt, andere nur hinter meinem Rücken getuschelt.«
Gaudenz rückte dicht an Rosmarie heran. Er legte wieder einen Arm um sie.
»Rosemarie, jetzt verstehe ich deine Tränen. Ich habe solche Vorurteile nicht. Ich sehe nur dich. Du bist eine wunderbare, schöne junge Frau, ein wirklich fesches Madl, wie man hier in den Bergen sagt.«
»Du machst mich verlegen, Gaudenz!«, sagte sie leise, und ihre Stimme bebte.
Gaudenz hätte Rosemarie jetzt am liebsten geküsst. Doch er hielt sich zurück. Ich muss vorsichtig sein, dachte er. Sie hatte so viel Vertrauen zu mir, ich darf sie nicht überfordern.
Liebe, in jeder Form, wurde ihr in ihrem Leben wenig zuteil. Sie muss selbst erkennen, dass es jemanden gibt, der sie liebt, der sie nicht verrät, der zu ihr steht, der ihr treu ist, der sie so sieht, wie sie ist, als wunderbarer Mensch ohne eine Vergangenheit. Sie muss erkennen, dass ich es ehrlich meine. Dazu brauche ich Hilfe, dachte er.
Die Zeit verging schnell am ›Erkerchen‹. Über den Bergen im Osten ahnte man bereits den Tag.
»Schau, es wird bald hell, Rosemarie! Wollen wir zurückgehen oder wollen wir bleiben, bis die Sonne aufgeht. Es ist ein unbeschreibliches Erlebnis, die Sonne aufgehen zu sehen.«
»Musst du nicht wieder hinunter ins Dorf? Hast du morgen keine Verpflichtungen?«
Er lächelte sie an.
»Ich habe einen Hof. Ich betreibe aber keine große Landwirtschaft mehr. Wie haben nur noch ein paar Hühner