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Eine illegitime Kunst. Pierre BourdieuЧитать онлайн книгу.

Eine illegitime Kunst - Pierre  Bourdieu


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das Feierliche zu feiern und das Heilige zu heiligen, bleibt sie immun gegen den Einfall, irgend jemandem oder irgend etwas zur Würde des »Photographierten« zu verhelfen, das sich nicht objektiv (d. h. gesellschaftlich) als »photographierbar« definiert und als »würdig, photographiert zu werden« – in beiden Fällen ist dasselbe Prinzip am Werk. Solange die Praxis nichts anderes ist als das Photographieren des Photographierbaren, so lange ist sie an diese Stätten und Augenblicke gekettet, von denen sie im doppelten Sinne des Wortes determiniert wird. Als permanente und verallgemeinerte Bereitschaft, jedes beliebige Objekt in den Rang eines Kunstwerks zu erheben, ist die künstlerische Einstellung, die das Prinzip ihrer Auswahl selbst bestimmt, die sich selbst determiniert, indem sie ihre Gegenstände determiniert, durch eine wesentliche Differenz von einer Praxis geschieden, die das Prinzip ihrer Existenz und ihrer Begrenzung außerhalb ihrer selbst sucht.

       Devotion oder Devianz?

      Die nämlichen Faktoren sind es, denen die photographische Praxis ihre immense Verbreitung verdankt, auch wenn es keinerlei institutionalisierten Anreiz oder eine Anleitung dazu gibt; die dafür sorgen, daß sie nur selten einer genuin ästhetischen Intention folgt und daß spezifisch künstlerische Interessen vor allem von Individuen oder Gruppen favorisiert werden, die von traditionellen Funktionen am stärksten entbunden sind.38 In der Tat ist Aufmerksamkeit für eine an ästhetischen Zielen orientierte Praxis nicht systematisch oder ausschließlich bei den Befragten mit dem höchsten Bildungsstand anzutreffen, d. h. bei denen, die am ehesten in der Lage wären, eine durch Bildung erworbene generelle Disposition auf eine spezifische Tätigkeit anzuwenden; man findet sie vielmehr bei denen, die aufgrund ihres Alters, ihres Familienstandes oder ihres Berufs weniger nachhaltig in die Gesellschaft integriert sind.39 Das wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Ausbildung eines genuinen Interesses für die Photographie die Aufhebung der traditionellen Funktionen voraussetzt (die, wie wir gesehen haben, der Gruppenintegration dienen), und daß ohne diese Voraussetzung Photographie zu betreiben eine Anomalie darstellt40: Innerhalb der eigenen Gruppe gegen den Strom schwimmen, bedeutet, sich zwingen, eine ungewöhnliche Praxis mit ungewöhnlicher Hingabe zu leben.

      Wir wollen die Umkehrung nicht zu weit treiben, doch die Beobachtung lehrt, daß gegenüber der Familienphotographie, Zeichen und Mittel der Integration in einem, die durch die Negation des familialen Gebrauchs definierte Photographie häufig eine geringer ausgeprägte Integration in die Familiengruppe oder den Beruf verrät, während sie andererseits bisweilen diese schwache Integration verstärkt, indem sie sie zum Ausdruck bringt. So ranken sich die kleinen Ehedramen mit wechselseitigen Vorwürfen (bei denen man sich halb scherzhaft, halb ernsthaft gegenseitig neckt) oft um die mit besonderer Hingabe betriebene Photographie:

      »Natürlich paßt das meiner Frau überhaupt nicht«, erklärt ein Vorarbeiter, Mitglied eines Photoklubs. »Also heute abend z.B. bin ich bereits zu spät dran und weiß schon jetzt, was ich zu hören kriege: ›Du mit deiner Photographie!‹ Wissen Sie, die meisten Frauen können mit der Photographie nichts anfangen.«

      Daß zahlreiche passionierte Amateure kategorisch auf einer Trennung der Geschlechter je nach photographischen Aufgaben und Interessen bestehen, daß sie sich eifersüchtig die anspruchsvollen Anwendungsgebiete vorbehalten und ihren Frauen lediglich die traditionellen überlassen, für die sie ihrer »Weiblichkeit« wegen »prädestiniert« seien, läßt erkennen, wie sehr die als Liebhaberei aufgefaßte Photographie, deren ästhetisches Credo sich, vor allem in den weniger gebildeten Schichten, oft auf die Absage an die Familienphotographie reduziert, aus ebendemselben Grund nach einer Komplementärpraxis verlangt, die der Frau reserviert wird und ausschließlich familialen Zwecken gehorcht.

      Tatsächlich findet der ambitionierte Photograph eine – wenn auch noch so eingeschränkte – Definition seines Vorhabens in der Absage an die rituellen Objekte der Alltagsphotographie. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Photoapparat fast immer Gemeinschaftseigentum ist, das unterschiedslos von den Gruppenmitgliedern in gemeinsamem Gebrauch genutzt wird, dann wird deutlich, daß der autonome Gebrauch der Kamera den Sinn eines Bruchs mit dem Gemeineigentum annimmt: Die Negation der Familienphotographie bedeutet wennschon nicht die Leugnung des Wertes der Familie überhaupt, so doch immerhin eines der Familienwerte, indem man sich weigert, dem Familienkult zu huldigen. Und das Verhalten des Fanatikers, der sich lange bitten läßt, bis er endlich eine Aufnahme von den Kindern macht, obwohl er viele Stunden zurückgezogen in der Dunkelkammer verbringt, steht dem Verhalten des Photographen, der feierlich und öffentlich dem Familienkult huldigt, in derselben Weise gegenüber, wie – soziologisch ausgedrückt – die Magie der Religion.

      Nach alledem überrascht es nicht, daß die Saisonkonformisten und die passionierten Amateure zwei statistische Gruppen mit gänzlich entgegengesetzten Merkmalen bilden: Engagierte Photographen finden sich häufiger unter den Unverheirateten, in kinderlosen Familien und bei den Jüngeren (vor allem im Alter von 18 bis 20 Jahren), d.h., in den Gruppen und Schichten, in denen die Gelegenheitsphotographen am schwächsten repräsentiert sind, so als ob diese Passion ein um so günstigeres Terrain hätte, je weniger sich der Druck der traditionellen Funktionen bemerkbar macht.41

      Zwar liegt der Anteil der Photoamateure bei den Unverheirateten niedriger als bei den Verheirateten, aber dafür nimmt die Praxis bei ihnen in der Regel sehr viel engagiertere Züge an. Sie sind weniger geneigt, die Photographie in den Dienst traditioneller Funktionen zu stellen, und unterscheiden sich im Hinblick auf ästhetische Intentionen von den Verheirateten eklatant in ihrer photographischen Praxis. Beschreibt man unter Rückgriff auf die Terminologie Durkheims zur Charakterisierung unterschiedlicher Typen des Selbstmords die Praxis dieser Photographie als »anomische«, so wird klar, daß es müßig wäre, die Ursachen oder Bedingungen dieser Passion in den immanenten Merkmalen statistischer Gruppen zu suchen, bei denen sie am häufigsten auftritt. Tatsächlich ist die Korrelation gerade negativ, da die ambitionierte Praxis, die Negation der allgemeinen Praxis, überall da (ex negativo) vorgezogen wird, wo der Druck der familialen Funktion nachläßt, und umgekehrt. Während der positive Einfluß der Integration sich in positiven Indikatoren äußert (etwa im Besitz einer Kamera), werden die Determinanten der ambitionierten Praxis erst dann in vergleichbarer Weise sichtbar, wenn ihre Wirkung erlischt: So sinkt der Anteil der Mitglieder von Photoklubs sehr stark mit der Eheschließung. Obwohl die Erfüllung traditioneller Funktionen der Photographie jedermann abgefordert wird (unabhängig von seiner ökonomischen oder sozialen Lage), einzig aufgrund der Integration in die Familie, so bleibt doch wahr, daß die Bedeutung, die der Einzelne der photographischen Praxis beimißt, vom System der impliziten Gruppenwerte abhängt, das die passenden Mittel und Wege bestimmt, um diese Funktionen erfüllen zu können. Wenngleich diese »Normen«42 sich innerhalb der städtischen Gesellschaft minder einschneidend bemerkbar machen als in der ländlichen Umgebung, überläßt die Gruppe die allgemeine Praxis bloß scheinbar der individuellen Phantasie. So kann man zwar die ambitioniertesten Photographen objektiv durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten statistischen Gruppen charakterisieren; aber wenn sie sich als solche verstehen, beziehen sie sich nicht auf diese abstrakten Kategorien, sondern auf ökonomisch und sozial definierte Gruppen. Engagement und Fanatismus können je nach der wirtschaftlichen und sozialen Lage, innerhalb deren oder gegen die sie sich ausbilden, völlig verschiedene subjektive und objektive Bedeutungen annehmen, denn sie binden ihren Stil und ihre Form der Orientierung implizit oder explizit an diese Lage.

      Die verschiedenen sozialen Schichten ermutigen zur Beschäftigung mit der Photographie in unterschiedlicher Weise. Das läßt sich z.B. daran ablesen, daß der Anteil derjenigen, die zwar noch keinen Apparat besitzen, aber die Absicht hegen, eine Kamera zu erwerben, in folgender Reihe relativ gleichmäßig ansteigt: Handwerker und Kleinhändler (12,5%), Arbeiter (16,6%), Selbständige und leitende Angestellte (20%) und schließlich mittlere Angestellte und Beamte (25%). Die ausgeprägte Häufigkeit geplanter Käufe bei den mittleren Angestellten ist aufschlußreich, da diese Schicht nicht das höchste Einkommen bezieht und die Kaufabsicht die Resultante aus einem gruppenspezifischen Anspruch einerseits und den finanziellen Möglichkeiten andererseits ist. Tatsächlich werden die Unterschiede noch deutlicher, wenn diese Absicht unbefangener und ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Mittel und deren Kosten zum Ausdruck kommt. Die bewußte und entschiedene Absage an die Photographie


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