Rassismus. Achim BühlЧитать онлайн книгу.
Nations of the World in Four Parts By Lemuel Gulliver mit beißender Ironie zum Ausdruck gebracht. Der Ich-Erzähler entdeckt in der in Form einer zweiteiligen Kinderbuchausgabe der als »Gullivers Reisen« bekannten Erzählung u. a. ein »Land der Zwerge« namens Liliput. Nach anfänglichen Turbulenzen stattet der Regierungssekretär Liliputs namens Reldresal dem Fremden einen Besuch ab und erläutert ihm, das Eiland sei sowohl von einem internen Konflikt als auch von einem äußeren Feind bedroht. Die innere Zwietracht stamme daher, dass sich in Liliput zwei Gruppen gebildet hätten. Während die einen – Tramecksan genannt – hohe Absätze trügen, seien es bei den Slamecksan niedere Absätze. Der König habe beschlossen nur Personen aus der Gruppe der Slamecksan bei Hofe zu beschäftigen. Die Erbitterung der beiden Gruppen sei bereits so groß, dass sie weder miteinander speisten noch miteinander kommunizierten und sich die Feindseligkeiten von Tag zu Tag zuspitzten. Der äußere Feind, so Reldresal, seien die Bewohner der Insel Blefuscu. Es handele sich bei ihnen um einstige unterdrückte Liliputaner, die auf die Nachbarinsel geflohen seien. Die Situation sei dadurch entstanden, dass der Großvater seiner jetzigen Majestät sich als Knabe, als er einst ein Ei essen wollte, verletzt habe. Der Vater habe daraufhin einen Erlass verkündet, dass alle Untertanen künftig ihre Frühstückseier am spitzen Ende zu öffnen hätten, die Öffnung des Eis am breiten Ende sei bei schwerer Strafe verboten worden. Der Befehl seiner Majestät habe zu Aufständen geführt, die unterlegenen Liliputaner seien schließlich nach Blefuscu geflohen.
Analysiert man die utopisch-fiktive Reiseerzählung Swifts rassismustheoretisch, so ist für einen Roman aus dem frühen 18. Jh. die satirische Darstellung des zwar unverzichtbaren, aber von seiner Wesensart her belanglosen Differenzkriteriums brilliant in Szene gesetzt. Handelt es sich – so ließe sich fragen – bei der inneren Aufspaltung Liliputs sowie bezüglich des »außenpolitischen Konflikts« zwischen Liliput und Blefuscu um Rassismen? Legt man die bisherigen Ausführungen zugrunde, so ist diese Frage zu bejahen. In beiden Fällen liegt ein Macht- und Herrschaftsverhältnis vor, bei dem eine Wir- und eine Fremdgruppe auf der Basis eines Differenzkriteriums antagonistisch positioniert werden. Während die Charakteristika der Wir-Gruppe (niedere Absätze bzw. Köpfen des Eis am spitzen Ende) positiv bewertet werden, erfahren die Charakteristika der »Fremdgruppen« (hohe Absätze bzw. Köpfen des Eis am runden Ende) eine Abwertung. Die Fremdgruppen werden darüber hinaus mit weiteren pejorativen Zuschreibungen versehen. Gegenüber den nach Blefuscu geflohenen unterdrückten Liliputanern ist dies die Behauptung, gegen Gebote des »großen Propheten Lustrog« verstoßen zu haben. Die »Ex-Liliputaner« werden auf diese Weise mit den negativ bewerteten Eigenschaften »Blasphemiker«, »Gotteslästerer« sowie »Gesetzesbrecher« etikettiert. Auch das definitorische Element der Exklusion trifft hier zu. Während die Fremdgruppe im ersten Fall von Ämtern am Hof bzw. der Regierung ausgeschlossen wird und damit zugleich eine deutliche Benachteiligung erfährt, handelt es sich im zweiten Fall um eine räumliche Exklusion, eine Ausgrenzung durch Vertreibung bzw. erzwungene Flucht. In beiden Fällen wird das Differenzkriterium essentialisiert, eine Essensgewohnheit bzw. eine Schuhmode zum Wesen der jeweiligen Gruppe verklärt sowie das Merkmal zum bestimmenden Faktor erhoben. Das Wesen des Rassismus, Macht- und Herrschaftsverhältnis zu sein, bringt Swift in unterhaltsamer Form zum Ausdruck. Insofern es sich bei den beteiligten Gruppen um Bewohner bzw. ehemalige Bewohner des Eilandes handelt, verdeutlicht Swift ebenso, dass sogenannte Fremdgruppen nicht eo ipso existieren, sondern dass sie vielmehr ein Produkt des rassistischen Spaltungsprozesses darstellen. Obwohl es sich bei der Präferenz für die Höhe eines Schuhabsatzes bzw. hinsichtlich gewisser Vorlieben bei der Öffnung eines Frühstückseis keineswegs um biologische Größen handelt, werden diese in der fiktiven Reiseerzählung als quasi-erblich konstruiert. Der Antagonismus zwischen den Tramecksan und den Slamecksan erscheint so als unlösbar, unüberbrückbar wie generationenübergreifend. Die Vorteile der einen gegenüber der anderen Gruppe im Kontext von Macht und Herrschaft liegen auf der Hand. Es geht um Vorteilswahrung bzw. um den exklusiven Erhalt eines Postens bei Hofe bzw. eines Regierungsamtes und damit um die Zugehörigkeit zur politischen Klasse bzw. um die Verfügungsgewalt über die politische Macht. In der Ich-Erzählung des Reisenden gibt es einen einschränkenden Sachverhalt, der den Übergang prärassistischer Strukturen zum Rassismus im engeren Sinne verdeutlicht. So erzählt der erste Sekretär für Privatangelegenheiten des Kaisers dem Fremdling Gulliver:
»Wir glauben, dass die Tramecksan oder die hohen Absätze uns an Zahl übertreffen, allein die Staatsgewalt liegt dennoch in unserer Hand. Wir sehen jedoch mit Sorge, dass Seine Kaiserliche Hoheit, der Thronerbe, eine gewisse Neigung für die hohen Absätze zeigt. Wenigstens können wir deutlich sehen, dass der eine seiner Absätze höher ist als der andere, wodurch er beim Gehen hinkt.«
Einen tänzelnden bzw. hinkenden Übertritt von der einen zur anderen Gruppe oder gar eine multiple Identität ermöglicht bzw. gestattet der Rassismus in der Regel nicht. Zu seinen Wesensmerkmalen zählt die Tatsache, dass er das konstruierte Differenzkriterium als quasi-erblich deklariert, zu seinen Herrschaftsmechanismen gehört die verewiglichte Bipolarität. Einmal Slamecksan immer Slamecksan, Slamecksan oder Tramecksan. Einen Thronfolger, der von einer Majestät abstammt, die zur Gruppe der Slamecksan gehört, und der humpelt, gewissermaßen also ein Slamtramecksan ist, lässt der Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis in der Regel nicht zu. Zum Wesen des Rassismus zählen bipolare hierarchische Grenzlinien, deren Undurchlässigkeit in der Regel dreifach temporär angelegt ist. Der Vater unserer Majestät hat sein Ei nur von der spitzen Seite geöffnet, genau wie es unserer kaiserlichen Hoheit und dem Thronerben beliebt; auch Enkel und Urenkel werden folglich zu den »Spitzköpfen« und nicht zu den »Rundköpfen« zählen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen beim Rassismus zu einer Historie des vermeintlich ewig Fremden sowie einer angeblich homogenen ewigen »Ur-Wir-Gruppe«.
Gewiss mag es bei diversen Rassismen Grenzgänger wie den Thronfolger von Liliput geben, doch gerade ihnen begegnet der Rassismus mit äußerstem Misstrauen, stellen sie doch letztendlich physische Manifestationen einer bedrohlichen Infragestellung der bipolaren Gewaltordnung sowie alltägliche Verdeutlichungen ihres konstruktivistischen Charakters dar. Ein weiteres Beispiel für Inklusionsbzw. Exklusionsprozesse als zentrale rassistische Strategien stellt im fiktiven Universum des Raumschiffs Enterprise in der ersten Staffel die Folge 8 »Balance of Terror«, auf Deutsch: »Spock unter Verdacht« dar. Mister Spock, gespielt von dem jüngst verstorbenen US-amerikanischen Schauspieler Leonard Nimoy, ist Wissenschaftsoffizier an Bord des Raumschiffs USS Enterprise. Zugleich Offizier ist er nicht nur ein integraler Teil der Besatzung, sondern eine der zentralen Führungspersonen auf der Brücke, dem Respekt gebührt. Spock ist einer der Grenzgänger, der sich dem bipolaren Herrschaftszugriff entzieht, insofern seine Mutter von der Erde und sein Vater vom Planeten Vulkan stammt. Obwohl es hin und wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Planeten Erde und dem Planeten Romulus kommt, wissen die Erdenbewohner noch nicht, wie Romulaner aussehen. Das Raumschiff USS Enterprise verfolgt ein romulanisches Schiff, das Außenposten der Erde angegriffen und vernichtet hat. Spock gelingt es, ein Bild vom Inneren des Raumschiffes zu übermitteln. Zu sehen ist erstmals in voller Größe ein Romulaner, der wie Mr. Spock spitz zulaufende Ohren besitzt. Aufgrund der äußeren Ähnlichkeiten blicken alle Brückenmitglieder verstohlen zu Mr. Spock, der darüber hinaus sogleich das Misstrauen von Lt. Stiles zu spüren bekommt, der ihn der Kollaboration bezichtigt. Insbesondere für sogenannte Grenzgänger erweisen sich Inklusionsprozesse als fragile soziale Tatbestände. Innerhalb von nur wenigen Sekunden wird ein Erster Offizier, ein scheinbar unangefochtenes Mitglied des Wir-Kollektivs zu einem Kollaborateur der Fremdgruppe, wenn auch die Szene optimistisch mit einem Beispiel für antirassistisches Verhalten endet. Captain Kirk weist das Verhalten von Lt. Stiles mit den Worten zurück: »Über eines dürfen sie sicher sein, Mr. Stiles. Auf der Brücke ist kein Platz für ihre Engstirnigkeit. Lassen sie die in ihrem Quartier zurück. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Die Brüchigkeit der Zugehörigkeit, ja die Schnelligkeit mit der ein Ausschluss aus der Wir-Gruppe erfolgen kann, erfuhren im Kontext der aktuellen Staatskrise »die Griechen« mit aller Härte. Galten griechische Migranten einst als »Musterknaben« für erfolgreiche Integration, so wurden sie nunmehr immer öfter als »Betrüger« diskriminiert, respektlos behandelt, beleidigt und diffamiert. Die soziale Funktion derartiger Übergriffe verdeutlichen die Überschriften und Titelbilder der Boulevardmagazine. Gesucht wird nach Sündenböcken für die globale Finanzkrise,