Dr. Norden Box 10 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
war sie so entschlossen wie nie zuvor.
»Wo sind sie?«, fragte sie, und ihre Stimme klang hart wie Metall.
»Im Infusionszimmer am Ende des Flurs«, gab Daniel Auskunft und sah seiner Frau nach, wie sie entschlossenen Schrittes davonging. »Was hast du vor?«, rief er ihr leise nach.
Doch Fee antwortete nicht. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf, ein Ziel vor Augen, von dem sie sich nicht ablenken ließ. Ohne nach links und rechts zu sehen, ging sie auf die Tür zu.
»Frau Norden, bitte!«, wollte der Kommissar sie auf den letzten Metern zur Vernunft bringen.
Doch auch ihn hörte die Löwenmutter nicht, und wenn er nicht umgerannt werden wollte, musste er Platz machen. Genau wie Danny, der gar nicht erst versuchte, Fee umzustimmen. Mit angehaltenem Atem sah er dabei zu, wie sie auf das Zimmer zutrat, die Hand auf die Klinke legte und sie herunterdrückte. Sie stieß die Tür auf und ging einfach weiter, an der Behandlungsliege vorbei und direkt auf Urs zu.
Der stand da und starrte die Frau an, in die er als Kind unsterblich verliebt gewesen war. Bilder aus den glücklichsten Tagen seines Lebens zogen an ihm vorbei. Er hörte Fees Lachen, fühlte, wie sie ihn durch die Luft wirbelte, spürte ihre weiche Hand, die ihm durchs Haar fuhr. Und noch einmal jagte ihm ihr zärtlicher Blick eine Gänsehaut über den Rücken.
»Was soll das?« Fees scharfe Stimme, die nichts mit seinen Erinnerungen zu tun hatte, riss ihn in die Gegenwart zurück. Doch die Bilder hatten ihn schwach gemacht, verletzlich.
»Tante Fee … bitte bleib zurück!« Urs Stimme zitterte, und hilflos sah er ihr dabei zu, wie sie ihm einfach die Schere aus der Hand nahm. Dann holte sie aus und ohrfeigte ihn. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Urs war so verblüfft, dass er den Schmerz nicht spürte.
»Du schlägst mich?«, fragte er fassungslos.
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell.
Der Kommissar hatte die Szene mit Argusaugen verfolgt. Die Ohrfeigen hallten noch durchs Zimmer, als er mit gezückten Handschellen losspurtete. Auch Wendy war in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen und hatte die Beamten vor der Tür informiert. Im Handumdrehen war das Zimmer voller Menschen. Handschellen klickten, und flankiert von seinen Kollegen führte Erich Huber den Geiselnehmer ab. Danny durchschnitt Désis Fesseln und hob seine Schwester von der Liege, während Fee mit gesenktem Kopf vor ihrem Mann stand. Schlagartig war die Anspannung von ihr abgefallen, und die ausgestandene Angst brach sich Bahn. Wie ein kleines Kind brach sie in Tränen aus, und Daniel wiegte sie in seinen Armen, bis sie sich langsam beruhigte.
*
»Jetzt mal ehrlich!« Am nächsten Morgen saß Felix Norden am Frühstückstisch und musterte seine Schwester Dési nachdenklich. »Findest du es nicht ein bisschen übertrieben, dich als Geisel nehmen zu lassen, nur damit du einen Tag schulfrei bekommst?«
Vor Lachen verschluckte sich Dési fast an ihrem Brot und musste husten, so dass ihr Zwillingsbruder Janni eine Antwort gab.
»Also, wenn ich dann auch immer daheim bleiben darf, kann sie das ruhig öfter machen.« Er hatte die ganze Geschichte erst im Nachhinein erfahren und konnte die Aufregung kaum nachvollziehen.
»Um Himmels willen!«, entfuhr es Fee. In dieser Nacht war sie immer wieder hochgeschreckt und musste sich ins Gedächtnis zurückrufen, dass alles vorbei und gut ausgegangen war. Genau wie ihrem Mann stand ihr der ausgestandene Schreck noch ins Gesicht geschrieben. »Noch mal so was, und ich lande als Pflegefall im Heim.«
»Keine Angst, Mamilein«, grinste Felix frech und zwinkerte ihr zu. »Wir kommen dich auch regelmäßig besuchen.«
Alle lachten, und Daniel schickte einen dankbaren Blick in die Runde. Die ganze Familie hatte sich zum Frühstück am Esstisch versammelt, um gemeinsam den Schock zu verarbeiten, den Urs Hansen allen Beteiligten und allen voran Dési versetzt hatte. Der Zusammenhalt der Familie und das fröhliche Geplauder ließen das traumatische Erlebnis zum Glück schnell verblassen. Am Ende blieb nur Mitleid mit Urs übrig, der mit dieser Tat alles zunichte gemacht hatte.
»Komisch«, sinnierte Dési. Obwohl noch keine Erdbeerzeit war, hatte Lenni keine Kosten und Mühen gescheut und extra Désis erklärtes Lieblingsobst besorgt. Diese Gelegenheit nutzte das Zwillingsmädchen denn auch weidlich aus und nahm sich noch eine Erdbeere aus der Schale, ehe sie fortfuhr. »Klar hab ich zwischendurch wahnsinnig Angst gehabt. Aber wenn ich jetzt so drüber nachdenke, tut mir Urs einfach nur leid.«
Diese Bemerkung war das beste Zeichen dafür, dass sie das Erlebte ohne Schaden an ihrer Seele überstanden hatte. Daniel und Fee sahen sich an, Erleichterung und Dankbarkeit im Blick, dass es ihnen gelungen war, ihren Kindern ein so stabiles Fundament mitzugeben.
»Er kann einem wirklich leid tun«, bestätigte der Arzt. Auch er dachte voller Mitgefühl an den jungen Mann, der nicht mit dieser stabilen Psyche ausgestattet war. »Nach dieser Geschichte kommt er so schnell nicht mehr raus aus dem Gefängnis. Mal abgesehen von der Geiselnahme wurden in seiner Zelle Drogen gefunden.«
»Aber wie kann das sein?«, fragte Anneka. »Ich dachte, im Gefängnis gibt’s so was nicht.«
»Leider doch. Und wenn es nicht so traurig wäre, könnte man die Kreativität der Schmuggler bewundern, mit denen sie die Drogen an die Häftlinge bringen«, wusste Daniel Norden zu berichten. »Erst neulich hab ich etwas Unglaubliches in der Zeitung gelesen. Ein Unbekannter hat einen Tennisball über die Gefängnismauern geworfen, der bis zum Rand mit Drogen gefüllt war. Allerdings fiel er genau einem Wärter vor die Füße, der natürlich sofort Verdacht geschöpft hat.«
»Dumm gelaufen.« Felix amüsierte sich sichtlich über diesen misslungenen Coup.
Doch Désis Gedanken verharrten bei Urs.
»Warum hört er denn nicht auf mit dem Blödsinn?«, wandte sie sich an ihre Mutter. »Das kann doch nicht so schwer sein.«
»Leider schon.« Bedauernd schüttelte Fee den Kopf. Sie hatte die schwere Aufgabe übernommen, Urs’ Mutter über die Tat ihres Sohnes zu informieren. Am Telefon war Carla Hansen in Tränen ausgebrochen und hatte von Urs’ langem Leidensweg berichtet. »Vor allen Dingen dann, wenn er nicht einsehen will, dass er ein Problem hat«, seufzte Fee. »Urs hat mit diesen Sachen angefangen, weil er mit der Trennung seiner Eltern nicht zurechtkam. Die Drogen gaukeln ihm vor, dass das Leben erträglicher und einfacher ist. Aber das ist ein Trugschluss, denn durch die Rauschmittel kommen neue Probleme, die er mit immer höheren Dosen bekämpfen muss. Ein Teufelskreis, aus dem es nur sehr schwer ein Entrinnen gibt.«
»Dann kann ihm kein Arzt der Welt helfen?« Annekas Stimme bebte vor Mitgefühl mit dem jungen Mann, der schon vor Jahren auf die schiefe Bahn geraten war.
»Zumindest so lange nicht, wie er nicht einsieht, dass er ernsthaft krank ist.« Trotzdem wollte Felicitas nicht ganz ohne Hoffnung in Urs’ Zukunft sehen. »Allerdings wird er jetzt in eine andere Anstalt verlegt. Dort bekommt er intensive psychologische Betreuung. Und hin und wieder gibt es durchaus Menschen, die ihre Sucht überwinden und ein glückliches, normales Leben führen können.«
Diese Hoffnung konnte ihr Mann nur teilen.
»Es gibt da einen erfolgreichen Triathleten, der seine Drogensucht mit Hilfe des Sports überwunden hat«, wusste er zu berichten, als Fee auf die Uhr sah und erschrak.
»Leider muss ich an dieser Stelle meine Faulheit überwinden und trotz allem den Tag in Angriff nehmen«, verkündete sie schweren Herzens und stand auf.
Auch wenn die Geschwister den Tag gemeinsam zu Hause verbringen durften, mussten die Eltern ihre Pflicht erfüllen.
In der Klinik wartete neben Kevin jede Menge Arbeit auf Dr. Felicitas Norden, und auch Daniel wollte Danny nicht zu lange mit den Patienten allein lassen.
*
»Wie kommt Tatjana nur immer auf diese unglaublichen Ideen?«, erkundigte sich Wendy und betrachtete das Tablett mit karamellisierten Apfelküchlein in Rosenform, die Danny zur Feier des Tages und mit besten Grüßen aus der Backstube an diesem Morgen serviert hatte.