Licht und Schatten. Johannes KunzЧитать онлайн книгу.
die von Wien über Prag und Dresden nach Berlin führte, sowie eine weitere zum Elbehafen nach Hamburg. Diese Vorteile der geographischen Lage ermöglichten und förderten das Entstehen von Betrieben, die Aussig zu einer Industriestadt werden lassen konnten.
Entscheidend für die industrielle Entwicklung war aber der Unternehmungsgeist der ›Kohlenbarone‹ Weinmann und Petschek, der weitverzweigten Familien Schicht, Wolfrum und Hübl, um nur einige zu nennen, denen Aussig Wohlstand und zahlreiche soziale Einrichtungen verdankte. Stiftungen wie die Lungenheilanstalt, das Blindeninstitut, die Stadtbibliothek, das Wöchnerinnenheim, Kindergärten, Schulen und Bäder waren und sind zum Teil heute noch Zeugen der Großherzigkeit und sozialen Gesinnung dieser Familien.
Ohne diese großzügigen Förderungen wäre Aussig eine unbedeutende Provinzstadt geblieben. Eben diese oben erwähnten Familien bauten sich prachtvolle Villen, zum Teil durch elegante Auffahrten zu erreichen, von weitläufigen Parks umgeben, die nicht nur ein attraktives Stadtbild schufen. Der kultivierte Lebensstil brachte auch ein reges gesellschaftliches Leben mit sich.
In einer der schönsten Straßen, in der es keine Geschäfte gab, nur Villen und Gärten, in der Baumgartenstraße 9, hatte mein Vater ein großes Haus gemietet, das für viele Jahre unser Heim war und noch heute mit allen Eindrücken und Erinnerungen aus der Kindheit und frühen Jugend auf das Engste verknüpft ist. Der kleine Garten vor dem Haus, der von einem Hausbesorger und dessen Frau auf das Sorgsamste gepflegt wurde, mit weißen und lila Fliederbäumen, einer Reihe Mandelbäumchen hinter einem schmiedeeisernen Zaun und dem Kastanienbaum, dessen rote Kerzen zur Blütezeit in mein Mädchenzimmer leuchteten, war in den Sommermonaten eine kleine Welt für mich. Hier führte ich meine Puppen in ihrem Wagen spazieren, lutschte den Honig aus den Fliederblüten und hockte – die Welt vergessend – mit einem Buch unter einem Baum.«
Im Elternhaus meiner Mutter, das von einer Köchin und einem Stubenmädchen in Schuss gehalten wurde, befand sich im Hochparterre ein holzgetäfeltes Speisezimmer. Von diesem führte eine Tür auf eine mit wildem Wein bewachsene kleine Terrasse. Eine Schiebetür führte in den Salon mit einem Flügel, an dem sich meine Mutter stundenlang austobte, und von da kam man in das behagliche Herrenzimmer mit Kamin und unendlich vielen Büchern. Das war das Refugium des Bankdirektors Beck, der viele gesellschaftliche Verpflichtungen hatte. Oft kamen Gäste. Aber auch abgesehen von beruflichen Terminen führten die Eltern meiner Mutter, somit meine Großeltern, auch privat ein großes Haus. Der Bruder meiner Großmutter, Robert Hage, war Direktor der Nationalbank in Reichenberg und häufig mit seiner Frau zu Besuch. Er sollte Jahre später das Kapital der Reichenberger Nationalbank in letzter Minute vor den Nazis retten. Die politischen und wirtschaftlichen Probleme, die anlässlich solcher Besuche diskutiert wurden, interessierten meine Mutter zu jener Zeit kaum, doch hörte sie da das erste Mal den Namen Adolf Hitler. Es war die Rede von Berlin, wo angeblich an Geschäftstüren, Parkbänken und Lokalen Aufschriften angebracht waren, auf denen stand: »Juden unerwünscht!«. Meine Mutter verstand das alles (noch) nicht, aber schon bald sollte sie persönlich mit der brutalen Realität des Antisemitismus konfrontiert werden. Schließlich entstammte mein Großvater einer jener deutsch-jüdischen Familien, von denen es hieß, sie wären die besten Deutschen gewesen. Es steht jedenfalls außer Zweifel, dass sie die deutsche Kultur wesentlich gefördert und unterstützt haben.
Der Urgroßvater meiner Mutter war übrigens Brauereidirektor in Pilsen. Vielleicht habe ich meine Vorliebe für böhmisches Bier von ihm geerbt. Ein anderer Vorfahre meiner Mutter war Arzt und hat als solcher am bosnischen Feldzug teilgenommen. Für besondere Verdienste in diesem Zusammenhang hat man ihm die Baronie angeboten, was er jedoch mit der Begründung ablehnte, er habe nur seine Pflicht als Arzt getan. Später war er einer der angesehensten Gynäkologen, in dessen Prager Praxis Frauen aus verschiedenen Teilen der Monarchie oder sogar aus dem Ausland kamen.
3 | Deutscher Einmarschim Sudetenland |
Ihre erste Begegnung mit jungen Nazis hatte meine Mutter 1933 in Aussig, als sie gerade 14 Jahre alt war: »Es wurde in der Schule hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, und schließlich schrieben die Zeitungen darüber. Der Sohn des Direktors, der damals in die achte Klasse ging, sollte angeblich an dem sogenannten ›Volkssport‹ beteiligt gewesen sein. Ich konnte mir darunter überhaupt nichts vorstellen. Für mich konnte Volkssport nur etwas wie Fußball, Faustball oder Ähnliches bedeuten. Nun handelte es sich, wie ich bald erfuhr, aber nicht um einen körperlich betriebenen Sport, sondern man bezeichnete damit nationalistische Agitationen, die darin bestanden, dass kampflustige Jünglinge in der Dunkelheit Hakenkreuze an Wände, Auslagenscheiben etc. schmierten, Flugblätter mit nationalen Parolen verteilten sowie Tschechen und Juden provozierten, was besonders zwischen tschechischen und deutschen Studenten in Prag ein beliebter ›Sport‹ war. Natürlich waren derartige Umtriebe verboten und wurden bestraft, wenn man die Täter erwischte. Viele nahmen diese ›Lausbübereien‹, ›Dummheiten‹ oder ›Bubenstreiche‹ nicht ernst, ich erinnere mich aber sehr gut, dass es auch zahlreiche warnende Stimmen gab. Wie wir heute wissen, war es die Einleitung zu einer bösen Entwicklung, deren Ausmaß sich in jener Zeit kaum jemand vorstellen konnte.«
Bald nach Schulschluss fuhr die ganze Familie meiner Mutter meistens an einen österreichischen Alpensee. Das war einmal der Wörthersee, ein anderes Mal der Millstätter See oder Altaussee, das fast zu einer zweiten Heimat meiner Mutter wurde. In diesen Sommertagen als Teenager lernte sie Österreich lieben. Und als sie am 13. März 1938 im Radio von der Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen hörte, weinte sie bitterlich und konnte es nicht fassen, dass es kein Österreich mehr geben sollte.
Mein Onkel Walter Beck 1933 in Aussig.
Zu dieser Zeit lernte meine Mutter ihren späteren Mann, meinen Vater Franz Kunz, kennen. Er hatte den Dienst beim tschechischen Militär geleistet, die Offiziersschule besucht und war in seiner feschen Uniform ein allseits bekannter Blickfang. Bei einer Übung explodierte ein Schrapnell, und das Geschoß hatte sich nach rückwärts anstatt nach vorne entladen und ihm den rechten Arm, seinem Nachbarn den linken Fuß weggerissen.
Mittlerweile verdüsterte sich der politische Himmel über der Tschechoslowakei. Nationalismus und Antisemitismus hitlerischer Prägung warfen nicht nur ihre Schatten über die Grenze, sondern traten bereits deutlich merkbar in Erscheinung. Seit 1933 gab es eine »Sudetendeutsche Heimatfront« (SHF), welche »die Zusammenfassung aller Deutschen in diesem Staate, die bewusst auf dem Boden der Volksgemeinschaft und der christlichen Weltanschauung stehen«, bildete. Konrad Henlein, ein 1898 im böhmischen Maffersdorf geborener Turnlehrer, war Führer der SHF, die sich 1935 in Sudetendeutsche Partei umbenannte. Er wollte »die demokratischen Grundformen und den bestehenden tschechoslowakischen Staat« anerkennen, aber die sudetendeutschen Interessen vertreten und verteidigen. Die Sudetendeutsche Partei wurde 1935 zur zweitstärksten politischen Kraft in der Tschechoslowakei. Nach 1936 wurde sie zunehmend von NS-Funktionären unterwandert. Henlein, der schon vor dem Anschluss des Sudetenlandes am 1. Oktober 1938 die Autonomie der Deutschen in der Tschechoslowakei gefordert hatte, wurde nach dem Münchner Abkommen Reichsstatthalter des Sudetengaus.
Das Schüren der Emotionen und Aversionen zwischen Tschechen und Deutschen hat natürlich nicht zu einem besseren Verhältnis zwischen den beiden Volksgruppen beigetragen. Die Tschechen reagierten auf Henlein teils aus Angst, teils aus Nationalismus, erinnert sich meine Mutter: »Eine dieser Reaktionen betraf auch meinen Vater. Der hatte in der von ihm geleiteten Böhmischen Industrialbank deutsche Beamte, darunter einen seit vielen Jahren bei ihm tätigen Prokuristen und einen schon alten Bürodiener, der eine Art Vertrauensposition in der Bank einnahm. Ich glaube mich zu erinnern, dass es Ende 1935 oder Anfang 1936 war, da wurde dieses Bankhaus mit einer tschechischen Bank in Prag fusioniert, und man verlangte von meinem Vater, diese beiden Deutschen zu entlassen und an ihrer Stelle Tschechen einzustellen. Mein Vater weigerte sich, seine langjährigen, verdienten Mitarbeiter zu entlassen und an ihrer Stelle Tschechen einzustellen. Diese Weigerung nahm man zum Anlass, ihm das Leben beziehungsweise die Zusammenarbeit so unangenehm und schwer zu machen, dass er ein Jahr später von sich aus kündigte.«
Mein