Der Grenadier und der stille Tod. Petra ReateguiЧитать онлайн книгу.
Jetzt brüllte er. »Erst den kleinen Finger nehmen und dann die ganze Hand wollen. Genau wie dieses Aas von Catharina, du bist genauso eine Hure wie sie …«
»Catharina? Catharina Würbsin?« Madeleine schrie auf, schlug aber sofort die Hand vor den Mund. »Aber was ist, wenn ich schwanger bin?«, flüsterte sie.
Sobringers Hand klatschte hart auf ihre Wange.
Laut kläffend kam ein Hund aus dem Hof gesaust, gleich dahinter ein Mann mit einer Forke.
»Haut bloß ab, in meim Haus wird net g’schtritte. Raus mit euch, raus!«
Madeleine stolperte, die Finger in die Trageriemen der Kiepe verhakt, aus dem Durchgang. Die Häuser der Gasse verschwammen, die Gärten gegenüber, Bäume, Sträucher, Zäune, Ställe, Misthaufen, ein paar pickende Hühner. Alles wurde unwirklich, das dämmrige Morgenlicht, der schwarze Köter, der zähnefletschend das Hoftor bewachte, der Grenadier Sobringer in seinem schönen blauen Rock. Er stapfte davon und schaute sich nicht mehr um. Tränen liefen Madeleine übers Gesicht, in den Ohren ein Brausen. Das Einzige, an was sie denken konnte, war: der Honig. Hoffentlich ist dem Honig nichts passiert, ich muss zum Markt damit. Hoffentlich ist der Krug nicht kaputt, der Deckel nicht verrutscht, hoffentlich …
Und die Trifulles! Sie wollte doch zum Tulpenwirt und ihm die Grumbiire geben. Und zur Medicinalratswitwe, für die sie, als die Maïre und die Nonno außer Haus waren, Zuckernüsse gebrannt hatte. Zum Dank für das Kleid. Aber Madeleine rührte sich nicht von der Stelle.
»Warum heulsch du denn?« Der Bub des Straßenfegers zupfte sie am Ärmel, verschreckt zuckte sie zusammen. Ignatz mit seiner Karre stand hinter ihm, mitten auf dem Weg, und schaute dem Grenadier nach. Seltsame Laute kamen aus seinem Mund. Als knurrte und grunzte ein Tier. Dazwischen Keuchen, leise Schreie. Unwillkürlich trat Madeleine einen Schritt zurück. Doch schon verstummte der Straßenfeger und blickte zu ihr.
Sie musste entsetzlich aussehen, völlig aufgelöst.
Er holte aus der Tasche seiner Joppe ein Sacktuch, schüttelte es, um ihr zu zeigen, dass es sauber war, gab es ihr und verschwand wortlos hinter seiner Karre, so wie er damals auf dem Markt ohne Gruß davongelaufen war. Hatte er ihr »Danke« gehört? Sie trocknete sich die Tränen, putzte die Nase. Das Kind beobachtete sie neugierig. Man konnte meinen, es habe noch nie einen erwachsenen Menschen weinen gesehen.
Ob der Kleine schon mal Honig gegessen hat?
»Komm her«, sagte sie und zwang sich zur Ruhe.
Sie setzte den Korb auf einem Mäuerchen ab, öffnete ihn, vergewisserte sich, dass der Honigbehälter noch fest verzurrt war, und nahm vorsichtig den Deckel ab. Er klebte verdächtig fest an der Öffnung des Gefäßes, aber sie hatte Glück gehabt, es war nichts ausgelaufen.
»Magst du was davon?«
Der Junge linste mit seinem einen Auge hinein, nickte begeistert. Sie füllte ihm einen der kleinen Krüge voll, die sie normalerweise gegen einen Obolus abgab, wenn Kundinnen ohne eigene Töpfchen am Stand erschienen. Zu Hause würde sie sagen, einer sei ihr zerbrochen.
»Und du, möchtest du auch?«, fragte sie Ignatz, der noch immer an seinem Wagen stand und dem Soldaten hinterherschaute. Aber der Straßenkehrer reagierte nicht.
»Er hört dich net«, erklärte der Junge, steckte seinen Zeigefinger in den Honig und leckte ihn genüsslich ab. »Er hört gar nix. Spreche kann er au net.«
»Er hört mich nicht?« Madeleine riss ungläubig die Augen auf. Der Straßenkehrer hatte sie gar nicht gehört? Deshalb also. Jetzt verstand sie, was die Buttermeierin meinte, als sie sagte: »auch wenn er net redet …«
»Und wie heißt er?«, fragte sie unnötigerweise.
»Ignatz. Sein Name kann er schreibe. Wenn du ihm ein Zettel mit seim Name drauf zeigsch …« Der Junge unterbrach sich. »Kannst du denn überhaupt schreiben?«, erkundigte er sich und versuchte, fein und ordentlich zu reden.
»Nicht gut.«
Würde das Kind begreifen, wenn sie erzählte, dass in der Palmbacher Schule Französisch unterrichtet wurde und sie Deutsch nur vom Hörensagen gelernt hatte?
»Und du? Kannst du schreiben?«, fragte sie ausweichend.
»Au nur mein Name. Chrischtoph. Die Großmutter hat’s mir gezeigt.«
Wieder tunkte der Junge seinen Finger in das Töpfle, redete aber weiter: »Sie kann den Lehrer nicht bezahlen. Auch der Ignatz war nie in einer Schule. Wer nicht hört und nicht spricht, kann net in die Schul, sagen die Leut. Sie sagen, dass so jemand net ganz richtig im Kopf isch. Aber das stimmt nicht, der Ignatz weiß alles. Er hat mir die Sterne am Himmel gezeigt und wie ich Fische in der Alb fangen kann, wie man sie ausnimmt und Feuer macht, um sie zu braten …«
Madeleine hörte nur noch mit halbem Ohr auf Christoph. Sie füllte einen zweiten kleinen Krug mit Honig, putzte die klebrigen Finger an Ignatz’ Sacktuch ab und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann ging sie hinüber zu dem Straßenfeger und berührte ihn am Arm.
»Für dich«, sagte sie und reichte ihm Tuch und Honig. »Und du hörst wirklich gar nichts? Keinen Ton?«
Dieses Mal flüchtete er nicht. Seine Augen folgten der Bewegung ihres Mundes, ihrer Augen. Als Christoph kam und ihm zunickte, lächelte er vorsichtig, tippte mit einer Hand an sein rechtes Ohr, dann an seine Lippen, drehte die Finger kurz, als drehe er einen Schlüssel im Schloss, und zuckte die Schultern. Eine Erklärung? Noch während Madeleine überlegte, fasste Ignatz sie am Arm, zeigte die Straße hinunter, wohin der Grenadier verschwunden war, wandte sich wieder ihr zu und deutete, für sie völlig überraschend, mit der Hand eine leichte Wölbung über der Stelle ihres Kleides an, unter der sich ihr Bauch verbarg. Er berührte den Stoff nicht, seine Finger hielten Abstand, nur die Augenbrauen hatte er fragend hochgezogen.
Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und sie erneut zu schluchzen anfing.
Was fällt diesem Kerl ein? Ein Mädchen zu fragen, ob sie ein Kind im Leib trug! Sie fauchte ihn an, doch mitten im Satz brach sie ab. Er hörte sie ja nicht.
Als wolle er Abbitte leisten, reichte er ihr sein Tuch ein zweites Mal, unwillig riss sie es wieder an sich. Dann nestelte sie am Deckelverschluss, packte sich den Korb auf den Rücken und rannte davon. Die Kiepe schlenkerte hin und her.
Dort, wo das Gässchen endete, öffneten sich ein winziger Platz und dahinter der Totenacker der reformierten Kirche. Hastig, als würde sie verfolgt, suchte Madeleine die Eingangstür zum kleinen Gotteshaus und schlüpfte in den schummrigen Gebetsraum. Gegen eine Wand gelehnt, schloss sie die Augen. Sie wollte niemanden sehen, weder den vermaledeiten Sobringer noch diesen unverschämten Kehrichtbauer und auch nicht den einäugigen Bub. Obwohl – der hatte ihr ja nichts getan.
Trotzdem!
Und dann war sie auch noch so dumm gewesen und hatte den beiden Honig geschenkt! Und zwei Töpfchen dazu! Als ob sie mit Geld um sich schmeißen könnte. Sie ärgerte sich über sich selbst, spürte ihr Herz bis in die Kehle klopfen. Mei-ne Schö-ne, mei-ne Schö-ne, hämmerte es gehässig.
Sie zitterte, suchte nach einem der Stühle, die Alten und Kranken vorbehalten waren, setzte sich. Doch die Stimme in ihr hörte nicht auf: Mei-ne Schö-ne, ich hab so Sehnsucht nach dir gehabt.
Bis Madeleine plötzlich ein Gedanke durch den Kopf fuhr: Und so was kann der Straßenkehrer nicht sagen? »Meine Schöne«? Auch nicht »bitte« und »danke«, »ja« und »nein«? Wie ist das, wenn man keine Sprache hat?
Sie hatte drei, Patouà, Französisch und Deutsch, und sie redete den ganzen Tag. Mit Gott, mit der Maïre und mit Jeanne. Oder mit den Frauen auf dem Markt. Und wenn sie dachte, dachte sie in Wörtern und Sätzen.
Kann man ohne Wörter denken?
Madeleine schaute sich um, sah eine schwarz gekleidete junge Frau, die vor sich hin murmelte. »… sei seiner Seele gnädig«, verstand sie. Ein kaputtes Fenster schlug auf und zu, durch die dünnen, lehmverputzten Wände