Die Fieberkurve. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
irgend etwas mit Pfeifen zu tun hatte… Pfeifen… Was pfiff? Ein Pfeil… Der Bolzen eines Blasrohres… Was noch? Eine Schlange?… Das waren alles Erinnerungen aus den Detektivgeschichten des Herrn Conan Doyle, der unter die Spiritisten gegangen war. – Es gab da eine Geschichte… Wie hieß sie? Das getupfte… getupfte… Ja, das getupfte Band! Da wickelte sich eine Schlange um eine Klingelschnur. Nun, Herr Conan Doyle besaß Phantasie, aber Studer hatte keine Brissagos mehr. So liebenswürdig und gastfreundlich die Franzosen auch waren, Brissagos kannten sie nicht… Und darum ließ sich der Wachtmeister sein längliches Lederetui am Bahnhofkiosk frisch füllen. Aber er versagte sich den Genuß, sogleich einen dieser Stengel anzuzünden, sondern begab sich zuerst ins Buffet, allwo er z'Morgen aß, ausgiebig und friedlich. Und dann beschloß er, einen Freund aufzusuchen, der in der Missionsstraße wohnte.
Unterwegs, zuerst in der Freien Straße, denn es war noch früh am Morgen und Studer machte einen Umweg, um seinen Freund nicht zu früh aufzustören, schüttelte er den Kopf. Das schadete wenig, denn es gab keine Passanten, die sich über dies Kopfschütteln und das nachherige Selbstgespräch hätten aufhalten können. Wachtmeister Studer schüttelte also seinen Kopf und murmelte: »Er duzt die Engel nicht.« Und Pater Matthias schien ein Mann zu sein, der voller Ränke war.
Auf dem Marktplatz schüttelte er noch einmal den Kopf und murmelte dann: »Das junge Jakobli läßt den alten Jakob grüßen.« Das Hedy war doch ein merkwürdiges Frauenzimmer!… Nun war es nah an den Fünfzig, Großmutter dazu, aber es liebte eine originelle Ausdrucksweise. Früher hätte sich Studer darüber geärgert. Aber nach siebenundzwanzigjähriger Ehe wird man nicht mehr taub… s'Hedy!… Die Frau hatte es nicht immer leicht gehabt. Aber ein tapferer Kerl war sie… Und nun: eine tapfere Großmutter…
Großmutter… Studer blickte auf, blieb stehen, denn es ging bergauf. Richtig: der Spalenberg! Und eine Nummer leuchtete ihm entgegen…
Da flog das Haustor auf, ein Mädchen stürzte heraus, und da der Wachtmeister der einzige Mensch auf der Straße war, packte es natürlich ihn am Ärmel und keuchte:
»Kommen Sie mit!… Die Mutter!… Es riecht nach Gas!… «
Und Wachtmeister Studer von der Berner Fahndungspolizei folgte seinem Schicksal: diesmal hatte es die Gestalt eines jungen Meitschis angenommen das gerne starke französische Zigaretten rauchte und ein Pelzjackett, graue Wildlederschuhe und graue Seidenstrümpfe trug.
»Blyb uf dr Loube!« sagte Studer, nachdem er keuchend drei Stockwerke erstiegen hatte. Ohne Zweifel, der Gasgeruch war deutlich! Keine Klinke, kein Schlüssel an der Türe… Tannenholz – und ein schwaches Schloß…
Studer nahm sechs Schritte Anlauf, keinen einzigen mehr. Aber eine simple Tannenholztüre vermag dem Anprall eines Doppelzentners nicht standzuhalten. So gab die Türe gehorsam nach – nicht das Holz, sondern das Schloß – und eine Wolke von Gas strömte Studer entgegen. Zum Glück war sein Nastuch groß. Er knotete es im Nacken fest, so daß es Mund und Nase bedeckte.
»Blyb dusse, Meitschi!« rief Studer noch. Zwei Schritte – und die winzige Küche war durchquert; eine Türe wurde aufgestoßen. Das Wohnzimmer war quadratisch, weißgekalkt. Der Wachtmeister riß das Fenster auf und lehnte sich hinaus… Und das Nastuch ließ sich wie eine Fastnachtsmaske abstreifen…
Ein Gewirr von Dächern… Kamine stießen friedlich ihren Rauch in die kalte Winterluft. Reif glänzte auf den dunklen Ziegeln. Und über den höchsten First kroch langsam eine bleiche Wintersonne. Der eindringende Luftzug nahm das giftige Gas mit sich.
Studer wandte sich um und sah einen flachen Schreibtisch, eine Couch, drei Stühle; an der Wand das Telephon. Er durchquerte den Raum, gelangte in die korridorartige Küche. Die beiden Hähne des Réchauds waren geöffnet, das Gas pfiff aus den Brennern. Gedankenlos schloß Studer diese Hähne. Es war nicht sehr einfach, denn ein Lehnstuhl stand im Wege, mit grünem Sammet überzogen. In ihm saß eine alte Frau, sonderbar friedlich, gelöst und schien zu schlafen. Die eine Hand ruhte auf der Armlehne, der Wachtmeister ergriff sie, tastete nach dem Puls, schüttelte den Kopf und legte die kalte Hand vorsichtig auf das geschnitzte Holz zurück.
Winzig war die Küche wirklich. Anderthalb Meter auf zwei, ein Korridor eher. Über dem Gasréchaud hing an der Wand ein Holzgestell. Blechdosen – ehemals weiß emailliert, jetzt gebräunt, die Glasur abgestoßen: »Kaffee«, »Mehl«, »Salz«… Alles war ärmlich. Und durch den leichten Gasgeruch, der noch zurückblieb, stach deutlich ein anderer: Kampfer…
Es roch nach alter Frau, nach einsamer, alter Frau.
Es war ein ganz bestimmter Geruch, den Studer kannte; er kannte ihn aus den winzigen Wohnungen in der Metzgergasse, wo es hin und wieder einer alten Frau zu langweilig wurde oder zu einsam und sie dann den Gashahn aufdrehte. Manchmal aber war es weder Einsamkeit noch Langeweile; sondern Not…
Studer trat vor die Wohnungstür. Links am Türpfosten, unter dem weißen Klingelknopf, ein Schild:
Josepha Cleman-Hornuss
Witwe
Witwe!… Als ob Witwe ein Beruf wäre!…
Er rief dem Meitschi, das am Geländer der Laube lehnte – g'späßig war das Haus gebaut: die Laube ging auf ein Gärtlein, obwohl die Wohnung im dritten Stockwerk lag, und das Gärtlein war von einer Mauer umgeben, in die eine Türe eingelassen war; wohin führte die Tür?… wohl auf eine Nebengasse – er rief dem Meitschi und es kam näher.
Es war natürlich und selbstverständlich, daß der Wachtmeister das Meitschi sanft zu dem Lehnstuhl führte, in dem eine alte Frau friedlich schlummerte.
Aber während die Tochter ihr winziges Nastuch zog und sich die Tränen trocknete, fiel dem Wachtmeister etwas auf:
Die alte Frau im Lehnstuhl trug einen roten Schlafrock, der mit Kaffeeflecken übersät war. Aber an den Füßen trug sie hohe Schnürstiefel, Ausgehschuhe – nein! keinerlei Pantoffeln!
Dann suchte Studer nach dem Gaszähler: Er hockte oben an der Wand, gleich neben der Wohnungstür, auf einem Brett und sah mit seinen Zifferblättern aus wie ein grünes und feistes und grimassierendes Gesicht.
Aber der Haupthahn stand schief!…
Er stand schief. Er bildete, wollte man genau sein, einen Winkel von fünfundvierzig Grad…
Warum war er nur halb geöffnet? Warum nicht ganz?
Im Grunde ging einen der ganze Fall ja nichts an. Man war Wachtmeister bei der Berner Fahndungspolizei, da sollten die Basler sehen, wie sie zu Schlag kamen. Übrigens, es schien ein Selbstmord zu sein, ein Selbstmord durch Leuchtgas – nichts Ungewöhnliches. Und nichts Ungewohntes…
Studer ging in den Wohnraum, der zugleich Schlafzimmer war – die Couch in der Ecke! – und suchte nun nach dem Telephonbuch. Es lag auf dem Schreibtisch, neben einem ausgebreiteten Kartenspiel. Während er nach der Nummer der Sanitätspolizei suchte, dachte der Wachtmeister verschwommen, wie ungewöhnlich es eigentlich war, daß eine Selbstmörderin vor dem Freitode noch Patiencen legte… Da fiel ein Blatt Papier aus dem Telephonbuch zu Boden, Studer hob es auf, legte es neben das ausgebreitete Kartenspiel – merkwürdig, oben in der Ecke links, die Karten waren in vier Reihen ausgelegt, lag der Piquebub, der Schuflebuur… Studer stellte die Nummer ein. Es summte, summte. Der Sanitätspolizist hatte wohl ausgiebig Silvester gefeiert. Endlich meldete sich eine teigige Stimme. Studer gab Auskunft: Spalenberg 12, dritter Stock, Josepha Cleman-Hornuss. Selbstmord… Dann hängte er an.
Er hielt das Papier noch in der Hand, das aus dem Telephonbuch zu Boden geflattert war. Es war vergilbt, zusammengefaltet, die unbeschriebene Seite nach außen. Studer öffnete es. – Eine Fieberkurve…
HÔPITAL MILITAIRE DE FEZ.
Nom: Cleman, Victor Alois. Profession: Géologue.
Nationalité: Suisse.
Entrée: 12/7/1917. – Paludisme.
Ins Deutsche übertragen hieß dies, daß es sich um einen gewissen Cleman Victor Alois handelte; sein Beruf: Geologe; sein Heimatland: die Schweiz;