Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
geführt hatte, die Hand. Marianne Weber deutete einen Knicks an. Denise schätzte ihr Alter auf etwa dreiundzwanzig Jahre und sollte später erfahren, dass sie damit richtig vermutet hatte.
»Kitty, willst du Frau von Schoenecker auch guten Tag sagen?«, forderte die Künstlerin das kleine Mädchen auf.
Kitty Linden, drei Jahre jung, deren dunkelblondes Haar seitlich zu zwei Rattenschwänzchen zusammengebunden war, kam herbei und machte einen beinahe bühnenreifen Knicks, den sie wohl ihrer Mutter abgeschaut hatte.
»Tag, ich bin Kitty. Und wer bist du?«
»Ich bin Tante Isi aus Sophienlust.«
»Du gefällst mir. Du hast so dunkles Haar wie meine Mutti.«
»Ja, Kitty«, sagte Denise. »Ich hoffe, wir werden uns gut vertragen.«
»Ja, ich mag dich leiden, Tante Isi.« Kitty zeigte keinerlei Schüchternheit, sondern kam Denise, die sie doch zum ersten Mal sah, gänzlich unbefangen entgegen. Das zeugte davon, dass Rosita Linden und Marianne Weber trotz des modernen Nomadenlebens, das sie geführt hatten, in der Erziehung des Kindes eine glückliche Hand besessen hatten.
Marianne Weber, die wusste, weshalb Denise die Fahrt nach München unternommen hatte, redete Kitty jetzt zu, mit ihr im Nebenzimmer Bilderbücher anzusehen. Das Kind ging gern mit ihr. So konnten Denise und Rosita Linden ungestört miteinander sprechen. Die angebotene Erfrischung lehnte Denise dankend ab, denn sie hatte im Hotel spät und ausgiebig mit Alexander gefrühstückt, sodass sie jetzt weder Durst noch Hunger verspürte.
»Sie wundern sich vielleicht, dass ich nicht einmal eine Wohnung habe. Aber das brachte meine Arbeit als Solistin so mit sich. Ich hatte einfach keine Gelegenheit, mir ein festes Domizil zu suchen. Deshalb entschied ich mich dafür, in Pensionen zu leben. Hier in München wohnte ich stets in diesem Haus. Man ist gut aufgehoben hier und kann schalten und walten, als gehöre einem alles. Das ist sehr angenehm für mich. Meine gute Marianne sorgt zusätzlich dafür, dass ich mich heimisch fühle. Deshalb habe ich auch auf einer raschen Entlassung aus dem Krankenhaus bestanden. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich die Atmosphäre in der Klinik bedrückte, sobald es mir ein bisschen besser ging. Ich bin ein freier Zugvogel und fühle mich in einem Krankenhaus wie in einem Käfig.«
Denise konnte sich das gut vorstellen. Die ausdrucksvollen, leuchtenden Augen der Kranken zeugten von Temperament und einem starken Willen. Bei aller Zartheit besaß diese Frau einen ausgeprägten Charakter. Sicherlich hätte sie sonst die Härten und Strapazen des Berufs einer Violinsolistin nicht auf sich genommen.
Schon bald erfuhr Denise, dass die Künstlerin bei ihrem unglücklichen Sturz außer der Armverletzung einen Beckenbruch davongetragen hatte.
»Wissen Sie, ich werde immer noch zornig, wenn ich daran denke, Frau von Schoenecker. Es war wohl ein nasser Fleck auf dem Badezimmerboden. Wie ich es fertigbrachte, auszurutschen, weiß ich nicht. Ich verlor einfach das Gleichgewicht, versuchte noch, mich abzustützen, aber es half nichts, ich fiel hin. Und zwar so hart und unglücklich, dass ich mich sofort nicht mehr rühren konnte. Es wurde später ein mehrfacher Beckenbruch festgestellt. Außerdem habe ich mir das Handgelenk gebrochen und die rechte Elle angebrochen. Zwar hindert mich der Beckenbruch jetzt noch am Gehen und Stehen, doch gilt meine eigentliche Sorge und Angst meinem rechten Arm und meiner Hand. Ich weiß nicht, ob ich je wieder werde den Bogen so führen können wie früher. Seit fast drei Monaten bin ich nun nicht mehr aufgetreten. Alle Verpflichtungen musste ich absagen. Wer weiß, ob meine Laufbahn als Künstlerin damit nicht für immer beendet ist.« Ihre Stimme klang dunkel und traurig in diesem Bericht.
Denise sann vergeblich auf ein Wort des Trostes. Es lag auf der Hand, dass Rosita Linden mit jedem Wort die Wahrheit sprach. Wenn sie nicht mehr geigen konnte, weil die Verletzung sie daran hinderte, war ihre Karriere zu Ende.
»Sie sollten jetzt noch nicht die Hoffnung aufgeben, Frau Linden«, meinte Denise leise und warm. »Noch sind Sie Rekonvaleszentin. Also dürfen Sie nicht resignieren. Später sieht man weiter.«
Rosita seufzte. »Der Professor redet immer vom Gehen. Er verspricht mir hoch und heilig, dass ich meine volle frühere Beweglichkeit zurückerlangen werde. Doch ich würde lieber ein wenig hinken, wenn ich mir damit die volle Kraft meines Armes und die Geschicklichkeit meiner Hand erkaufen könnte. Gerade über diese beiden Dinge schweigt sich der Professor aber mit großer Gewandtheit aus, indem er immer rasch von dem großen, schweren Beckenbruch anfängt, der ihm als so schrecklich wichtig erscheint, dass der Arm daneben kaum ins Gewicht fällt.«
»Ich hoffe trotzdem auf Besserung. Wenn Sie es nicht tun, hoffe ich für Sie mit«, erklärte Denise rasch. »Außerdem habe ich im Leben schon mehrmals die seltsame Erfahrung gemacht, dass auch die unerfreulichsten und tragischsten Ereignisse einen Kern in sich tragen können, der sich am Ende für den Betroffenen als gut und segensreich erweist. Das mag für Sie jetzt unglaubhaft und wie eine leere Phrase klingen, aber vielleicht hat das Schicksal etwas mit Ihnen vor, wovon Sie im Moment nichts ahnen. Verlieren Sie also nicht den Mut.«
Rosita lächelte traurig. »Ich fürchte, dass ich den Schicksalsschlag, der für mich richtungsweisend war, schon hinter mir habe, Frau von Schoenecker. Damals, als ich das Kind erwartete und von seinem Vater enttäuscht worden war, blieb mir nur die Musik. Sie tröstete mich, und sie machte mich reich, selbst in den Tagen und Stunden, in denen ich mich arm und einsam fühlte. Wenn mir jetzt das Geigenspiel unmöglich gemacht würde … Ach, ich weiß nicht, was ich dann tun würde.«
Denise schwieg betroffen. Rosita hatte mit solcher Leidenschaftlichkeit gesprochen, dass jede Entgegnung auf diesen Ausbruch ihrer innersten Gefühle taktlos gewesen wäre.
Nach einer kleinen Weile ergriff die Künstlerin erneut das Wort. »Ich möchte Ihnen meine kleine Kitty anvertrauen, liebe, verehrte Frau von Schoenecker. Meine Freundin, Frau Osterloh, hat mir so viel von Sophienlust vorgeschwärmt, dass es für mich eine Art Märchenwelt geworden ist. Ich habe auch bereits damit begonnen, Kitty auf die Umstellung vorzubereiten. Ich glaube, sie würde sich gut einleben und kein Heimweh bekommen. Sie ist innerlich sehr selbstständig. Das werden Sie schon bei der Begrüßung gemerkt haben.«
»Ja, Kitty ist ein außergewöhnliches Persönchen. Ganz gewiss wird es ihr in Sophienlust gefallen. Heidi, unsere Fünfjährige, hat sich schon erboten, Mutterstelle an Kitty zu vertreten. Sie sehen, es kann eigentlich nichts mehr schiefgehen«, scherzte Denise, um der Unterhaltung ein wenig von ihrem Gewicht zu nehmen.
»Ich benötige viel Pflege und Hilfe. Auf die Dauer kann ich meiner treuen Marianne kaum zumuten, für Kitty und mich zu sorgen. Sie bekommt von früh bis spät keine Minute Ruhe, und an Freizeit ist überhaupt nicht zu denken. Ab wann könnten Sie Kitty denn aufnehmen? Dauert es lange, bis ein Platz frei wird?«
»Falls Sie einverstanden sind, würden mein Mann und ich Kitty morgen gleich mitnehmen. So hatten wir es uns eigentlich gedacht.«
»So schnell? Das hört sich wie ein Wunder an.«
»Sophienlust ist dafür da, Kindern zu helfen, die sich in Not oder in Schwierigkeiten befinden. Morgen oder nächste Woche oder nächsten Monat kann es manchmal schon zu spät sein. In einem so großen Gebäude findet sich auch dann noch ein Plätzchen, wenn alles schon besetzt ist. Das ist unser Vorteil.«
»Wie kamen Sie auf den Gedanken, das Heim zu gründen? Ein Landgut besitzen viele Menschen, aber daraus eine Zufluchtsstätte für Kinder zu machen, dazu bedarf es doch eines besonderen Anlasses. Oder irre ich mich darin?«
»Sie haben recht. Es war allerdings nicht meine Idee, sondern die der verstorbenen Großmutter meines ersten Mannes. Interessiert Sie die Geschichte unseres lieben Sophienlust?«
»Ja, gewiss – zumal ich doch ernstlich entschlossen bin, Ihnen meine Kitty mitzugeben.«
Denise lehnte sich ein wenig im Sessel zurück und begann: »Ich war in erster Ehe mit Dietmar von Wellentin verheiratet. Leider starb mein Mann noch vor der Geburt meines Sohnes Dominik, und ich blieb in ziemlichen Schwierigkeiten zurück. Als mein Sohn fünf Jahre alt war, starb seine Urgroßmutter Sophie von Wellentin und hinterließ ihm das Gut sowie ein großes