Sherlock Holmes' Buch der Fälle. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
denn gesagt, daß ich ein Kenner sei?«
»Mir ist bekannt, daß Sie über das Thema ein Buch geschrieben haben.«
»Haben Sie das Buch gelesen?«
»Nein.«
»Meine Güte, das wird mir immer unverständlicher! Sie sind ein Kenner und Sammler und besitzen ein sehr wertvolles Stück in Ihrer Sammlung, haben sich jedoch nie die Mühe gemacht, das einzige Buch zu konsultieren, das Sie über die wahre Bedeutung und den Wert Ihres Besitzes hätte belehren können. Wie erklären Sie das?«
»Ich bin ein sehr beschäftigter Mann. Ich bin praktizierender Arzt.«
»Das ist keine Antwort. Wenn jemand ein Steckenpferd hat, dann geht er ihm eifrig nach – ganz gleich, welche Tätigkeiten er sonst noch ausüben mag. In Ihrem Billett haben Sie behauptet, ein Kenner zu sein.«
»Das bin ich auch.«
»Dürfte ich Sie mit ein paar Fragen auf die Probe stellen? Ich muß Ihnen sagen, Doktor – wenn Sie denn wirklich ein Doktor sind –, daß die Sache immer verdächtiger wird. Ich möchte Sie fragen: Was wissen Sie über den Kaiser Shomu, und wie bringen Sie ihn mit dem Shosoin bei Nara19 in Verbindung? Du meine Güte, das bringt Sie wohl in Verlegenheit? Erzählen Sie mir doch ein bißchen über die Nördliche Wei-Dynastie und ihren Platz in der Geschichte der Töpferkunst20.«
In gespieltem Ärger sprang ich vom Stuhl hoch.
»Das ist unerträglich, Sir«, sagte ich. »Ich bin hierhergekommen, um Ihnen einen Gefallen zu tun und nicht, um von Ihnen wie ein Schuljunge examiniert zu werden. Meine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind im Vergleich zu den Ihrigen vielleicht nur zweitrangig; aber ich werde gewiß keine Fragen beantworten, die in so beleidigender Weise gestellt wurden.«
Er sah mich unverwandt an. Alle Verträumtheit war aus seinen Augen gewichen. Sie funkelten plötzlich. Zwischen den grausamen Lippen schimmerten seine Zähne.
»Was wird hier gespielt? Sie sind doch als Spion hier. Sie sind ein Kundschafter von Holmes. Sie versuchen mich hereinzulegen. Wie ich höre, liegt der Kerl im Sterben; also schickt er seine Handlanger, um mich zu überwachen. Sie haben sich hier auf unerlaubte Weise Zutritt verschafft, aber bei Gott! Sie sollen merken, daß das Hinauskommen schwerer ist als das Hineinkommen.«
Er war aufgesprungen; ich wich zurück und machte mich auf einen Angriff gefaßt, denn der Mann war außer sich vor Wut. Möglicherweise war ich ihm von Anfang an verdächtig gewesen; dieses Kreuzverhör hatte ihm zweifellos die Wahrheit enthüllt; jedenfalls war klar, daß ich nicht hoffen durfte, ihn zu täuschen. Seine Hand fuhr hastig in eine Seitenschublade und durchstöberte sie wütend. Dann vernahm er wohl ein Geräusch, denn er hielt aufmerksam lauschend inne.
»Ah!« rief er. »Ah!« und stürzte in den Raum hinter ihm.
Mit zwei Schritten war ich an der offenen Tür, und die Szene dahinter werde ich immer als klares Bild im Gedächtnis bewahren. Das zum Garten hinausweisende Fenster stand weit offen. Daneben stand, einem Schreckgespenst gleich, den Kopf in blutbefleckte Bandagen gewickelt und das Gesicht erschöpft und weiß, Sherlock Holmes. Im nächsten Augenblick war er durch die Fensteröffnung, und ich hörte, wie sein Körper draußen in die Lorbeerbüsche krachte. Mit einem Wutgeheul stürmte der Hausherr hinter ihm her zum offenen Fenster.
Und dann! Es geschah im Nu, und doch nahm ich es deutlich wahr. Ein Arm – ein Frauenarm – schoß aus dem Laub hervor. Im gleichen Augenblick stieß der Baron einen gräßlichen Schrei aus – einen Aufschrei, der mir immer im Gedächtnis nachklingen wird. Er schlug beide Hände vors Gesicht, raste im Zimmer umher und rannte mit dem Kopf furchtbar gegen die Wände. Dann fiel er auf den Teppich; er wälzte und krümmte sich, während Schrei auf Schrei durch das Haus gellte.
»Wasser! Um Gottes willen, Wasser!« schrie er.
Ich griff mir von einem Seitentisch eine Karaffe und eilte ihm zu Hilfe. Im gleichen Moment stürmten von der Halle her der Butler und mehrere Diener herein. Ich erinnere mich, daß einer von ihnen ohnmächtig wurde, als ich bei dem Verletzten kniete und jenes furchterregende Gesicht ins Lampenlicht drehte. Das Vitriol fraß sich überall hinein und tropfte von Ohren und Kinn. Ein Auge war bereits weiß und glasig; das andere rot und entzündet. Die Züge, die ich ein paar Minuten zuvor noch bewundert hatte, glichen nun einem schönen Gemälde, über welches der Künstler einen nassen und fauligen Schwamm gezogen hatte. Sie waren verwischt, verfärbt, unmenschlich, schrecklich.
Mit ein paar Worten erklärte ich genau, was geschehen war, soweit es den Angriff mit dem Vitriol betraf. Einige waren durchs Fenster geklettert, andere hinausgeeilt auf den Rasenplatz, aber es war dunkel und hatte zu regnen begonnen. Zwischen seinen Schreien raste und tobte das Opfer gegen die Rächerin. »Es war diese Höllenbrut, Kitty Winter!« rief er. »Oh, dieses Teufelsweib! Dafür wird sie bezahlen! Bezahlen wird sie! Oh, Gott im Himmel, diese Schmerzen sind nicht auszuhalten!«
Ich badete sein Gesicht in Öl, legte Watte auf die wunden Hautflächen und verabreichte eine Morphium-Injektion. Angesichts dieses Schocks war jeder Argwohn gegen mich von ihm gewichen, und er klammerte sich an meine Hände, als ob es auch noch in meiner Macht läge, Licht in jene Augen zu bringen, die wie die eines toten Fisches zu mir aufstarrten. Ich hatte weinen können über die Verwüstung, hätte ich mich nicht des nichtswürdigen Lebens erinnert, das zu einer solch gräßlichen Veränderung geführt hatte. Es war ekelerregend, das Tätscheln seiner brennenden Hände zu spüren, und ich war erleichtert, als, dicht gefolgt von einem Spezialisten, sein Hausarzt kam, um mich von meinem Posten abzulösen. Auch ein Polizei-Inspektor war inzwischen eingetroffen, und ihm übergab ich meine echte Visitenkarte. Jede andere Handlungsweise wäre ebenso sinnlos wie töricht gewesen, denn man kannte mich beim Yard vom Sehen fast ebenso gut wie Holmes selbst. Dann verließ ich dieses Haus der Düsternis und des Schreckens. Binnen einer Stunde war ich in der Baker Street.
Holmes saß in seinem altgewohnten Sessel; er wirkte sehr blaß und erschöpft. Abgesehen von seinen Verletzungen hatten sogar seine eisernen Nerven unter den Ereignissen dieses Abends gelitten, und er lauschte entsetzt meinem Bericht über die Verwandlung des Barons.
»Der Sünden Sold21, Watson – der Sünden Sold!« sagte er. »Früher oder später ereilt er jeden. Weiß Gott, da waren der Sünden genug«, fügte er hinzu; er nahm einen braunen Band vom Tisch. »Hier ist das Buch, von dem die Frau gesprochen hat. Wenn das die Heirat nicht verhindern kann, dann nützt überhaupt nichts mehr. Aber das wird es, Watson. Das muß es. Keine Frau mit Selbstachtung könnte so etwas ertragen.«
»Es ist wohl das Tagebuch seiner Liebschaften?«
»Oder das Tagebuch seiner Begierden. Nennen Sie es, wie Sie wollen. In dem Augenblick, da die Frau uns davon erzählte, erkannte ich, welch eine enorme Waffe es wäre, wenn wir seiner nur habhaft werden könnten. Ich deutete damals meine Absichten nicht an, denn diese Frau hätte sie möglicherweise ausgeplaudert. Aber ich grübelte darüber nach. Dann verschaffte dieser Anschlag auf mich die günstige Gelegenheit, den Baron glauben zu lassen, gegen mich seien keine Vorsichtsmaßnahmen mehr nötig. All das gelang bestens. Ich hätte noch ein bißchen länger gewartet, aber seine geplante Amerikareise zwang mich zu handeln. Ein so kompromittierendes Dokument hätte er niemals zurückgelassen. Deshalb mußten wir sofort zu Werke gehen. Nächtlicher Einbruch kam nicht in Frage. Dagegen war er gewappnet. Aber abends gab es eine Chance, sofern ich nur sicher sein konnte, daß seine Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen war. Und da kamen Sie und Ihre blaue Schale ins Spiel. Aber ich mußte zweifelsfrei wissen, wo sich das Buch befand, und mir war klar, daß mir nur wenige Minuten zum Handeln blieben, denn meine Zeit war danach bemessen, wie gut Sie sich in chinesischer Töpferkunst auskannten. Deshalb habe ich im letzten Moment das Mädchen mitgenommen. Woher sollte ich denn ahnen, was das für ein Päckchen war, das sie so sorgsam unter dem Mantel trug? Ich dachte, sie sei ganz und gar meiner Geschäfte wegen gekommen; aber anscheinend hatte sie auch noch ein eigenes zu besorgen.«
»Er hat geahnt, daß Sie mich geschickt haben.«
»Das stand zu befürchten. Aber Sie haben ihn gerade noch lange genug hingehalten, daß ich das Buch holen