Sherlock Holmes' Buch der Fälle. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
Freund war auf eine vorangegangene Einladung hin erschienen. Mit größter Aufmerksamkeit lauschte er Holmes' Bericht über das, was geschehen war.
»Sie haben Wunder vollbracht – Wunder!« rief er, als er die Geschichte gehört hatte. »Wenn aber diese Verletzungen so schrecklich sind, wie Dr. Watson sie schildert, dann läßt sich unser Ziel, die Heirat zu vereiteln, doch gewiß ohne den Einsatz dieses scheußlichen Buches erreichen.«
Holmes schüttelte den Kopf.
»Frauen vom Typ de Merville reagieren anders. Sie würde ihn als entstellten Märtyrer nur um so mehr lieben. Nein, nein. Seine moralische Seite, nicht seine physische, gilt es zu zerstören. Dieses Buch wird sie auf die Erde zurückholen – ich wüßte nicht, womit man dies sonst noch erreichen könnte. Er hat es mit eigener Hand geschrieben. Daran kann sie nicht vorbei.«
Sir James nahm sowohl das Buch als auch die kostbare Schale mit. Da ich selbst überfällig war, ging ich mit ihm hinunter auf die Straße. Ein Brougham22 erwartete ihn bereits. Er sprang hinein, gab dem mit einer Kokarde geschmückten Kutscher hastig eine Anweisung und fuhr rasch davon. Er schwang seinen Mantel halb aus dem Fenster, um das Wappenschild auf dem Paneel zu verhüllen; aber nichtsdestoweniger hatte ich es im grellen Licht von der Lünette über unserer Haustür bereits erkannt. Vor Überraschung rang ich nach Luft. Dann machte ich kehrt und lief die Treppe zu Holmes' Wohnung hinauf.
»Ich habe herausgefunden, wer unser Klient ist«, rief ich und wollte mit meiner großen Neuigkeit herausplatzen. »Wahrhaftig, Holmes, es ist ...«
»Es ist ein treuer Freund und ritterlicher Gentleman«, sagte Holmes und hob Einhalt gebietend eine Hand. »Das soll uns jetzt und für immer genügen.«
Ich weiß nicht, auf welche Weise man sich des inkriminierenden Buches bediente. Vielleicht hat Sir James die Sache bewerkstelligt. Andererseits ist es wahrscheinlicher, daß eine so delikate Aufgabe dem Vater der jungen Lady anvertraut wurde. Die Wirkung jedenfalls war ganz wie erwünscht. Drei Tage später erschien in der Morning Post ein Artikel, der verlautbarte, daß die Eheschließung zwischen Baron Adelbert Gruner und Miss Violet de Merville nicht stattfinden werde. Dasselbe Blatt brachte auch das erste polizeigerichtliche Verhör23 im Verfahren gegen Miss Kitty Winter aufgrund der schweren Anklage wegen Vitriolspritzens. Während der Verhandlung kamen jedoch derartig mildernde Umstände an den Tag, daß das Gericht, wie man sich erinnern wird, die geringste Strafe verhängte, die bei einem solchen Vergehen möglich war. Sherlock Holmes drohte eine Strafverfolgung wegen Einbruchs; aber wenn der Zweck gut und der Klient illuster genug ist, wird sogar die starre britische Rechtsprechung human und elastisch. Mein Freund hat bis jetzt noch nicht auf der Anklagebank gesessen.
Der erbleichte Soldat
Die Ideen meines Freundes Watson sind begrenzt, aber um so hartnäckiger hält er an ihnen fest. Seit langem schon drängt er mich, eines meiner Erlebnisse einmal selbst niederzuschreiben. Womöglich habe ich diese Aufsässigkeit ein wenig provoziert, da ich schon oft Ursache hatte, ihn auf die Oberflächlichkeit seiner Darstellungen hinzuweisen und ihn dafür zu tadeln, daß er dem Massengeschmack willfahre, anstatt sich streng an Fakten und Personen zu halten. »Versuchen Sie es doch selbst, Holmes!« gab er darauf zurück, und ich muß bekennen, daß ich nun, die Feder in der Hand, doch einzusehen beginne, daß der Stoff auf eine Weise präsentiert werden muß, die das Interesse des Lesers zu wecken vermag. Diesen Zweck kann die folgende Begebenheit kaum verfehlen, da sie zu den seltsamsten Fällen meiner Sammlung zählt – auch wenn sich zufälligerweise darüber nichts in Watsons Sammlung findet. Wo ich schon von meinem alten Freund und Biographen spreche, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, um folgendes anzumerken: Wenn ich mich bei meinen vielfältigen kleinen Untersuchungen mit einem Begleiter belastet habe, so nicht etwa aus Gefühlsduselei oder aus einer Kaprice heraus, sondern weil Watson einige bemerkenswerte Eigenschaften besitzt, denen er – bescheiden, wie er ist – in seiner übertriebenen Wertschätzung meiner Leistungen bisher nur geringe Beachtung geschenkt hat. Ein Verbündeter, der einem Schlußfolgerungen und Vorgehensweise vorwegnimmt, ist immer gefährlich; aber jemand, dem jede Entwicklung stets als Überraschung daherkommt und dem die Zukunft allzeit ein versiegeltes Buch ist, stellt in der Tat einen idealen Gehilfen dar.
Meinem Notizbuch entnehme ich, daß ich im Januar 1903, just nach Beendigung des Burenkrieges24, Besuch von Mr. James M. Dodd erhielt, einem großen, frischen, sonnengebräunten und aufrechten Briten. Der gute Watson hatte mich damals um einer Gattin willen verlassen, im Lauf unserer Kameradschaft die einzige eigennützige Tat, deren ich mich entsinnen kann. Ich war allein.
Gewöhnlich sitze ich mit dem Rücken zum Fenster und plaziere meine Besucher auf den Stuhl gegenüber, wo das Licht voll auf sie fällt. Mr. James M. Dodd schien ein wenig in Verlegenheit, wie das Gespräch zu beginnen sei. Ich machte keinen Versuch, ihm zu helfen, denn sein Schweigen ließ mir mehr Zeit zur Beobachtung. Es hat sich als klug erwiesen, die Klienten mit einer Kostprobe meiner Fähigkeiten zu beeindrucken, daher teilte ich ihm einige meiner Schlußfolgerungen mit.
»Aus Südafrika, Sir, stelle ich fest.«
»Ja, Sir«, antwortete er ziemlich überrascht.
»Imperial Yeomanry25, nehme ich an.«
»Genau.«
»Middlesex Corps, ohne Zweifel.«
»So ist es. Mr. Holmes, Sie sind ja ein Hexenmeister.«
Ich lächelte über seine verblüffte Miene.
»Wenn ein kräftig wirkender Gentleman mein Zimmer betritt, mit einer Gesichtsbräune, wie sie die englische Sonne niemals erzeugen könnte, und mit dem Taschentuch im Ärmel statt in der Tasche, fällt es nicht schwer, ihn einzuordnen. Sie tragen einen kurzen Bart, was zeigt, daß Sie kein Berufssoldat waren. Sie sehen aus wie ein Reiter. Was Middlesex betrifft, so hat mir bereits Ihre Karte verraten, daß Sie ein Börsenmakler aus der Throgmorton Street sind. Welchem Regiment sollten Sie sonst angehören?«
»Sie sehen alles.«
»Ich sehe nicht mehr als Sie, aber ich habe mir angewöhnt zu Beachten, was ich sehe. Wie auch immer, Mr. Dodd, Sie sind heute morgen nicht zu mir gekommen, um die Wissenschaft der Beobachtung zu erörtern. Was ist denn in Tuxbury Old Park geschehen?«
»Mr. Holmes ...!«
»Mein lieber Sir, daran gibt es nichts Geheimnisvolles. Ihr Schreiben trug diesen Briefkopf, und da Sie die Dringlichkeit unseres Treffens betont haben, war klar, daß sich etwas Unvorhergesehenes und Bedeutsames ereignet hatte.«
»Ja, allerdings. Aber ich habe den Brief am Nachmittag geschrieben, und seitdem ist eine ganze Menge passiert. Wenn Colonel Emsworth mich nicht rausgeworfen hätte ...«
»Rausgeworfen!«
»Naja, darauf lief es jedenfalls hinaus. Er ist ein eisenharter Bursche, dieser Colonel Emsworth. Der größte Leuteschinder in der Armee seinerzeit, und damals herrschte sowieso schon ein rauher Umgangston. Wenn es nicht um Godfrey gegangen wäre, hätte ich mir das Benehmen des Colonels nicht gefallen lassen.«
Ich zündete mir meine Pfeife an und lehnte mich in den Stuhl zurück.
»Vielleicht erklären Sie mir bitte, wovon Sie sprechen.«
Mein Klient grinste verschmitzt.
»Ich war schon drauf und dran zu glauben, daß Sie alles wissen, ohne daß man Ihnen was erzählt«, sagte er. »Aber ich will Ihnen berichten, was passiert ist, und ich hoffe zu Gott, daß Sie mir sagen können, was das zu bedeuten hat. Die ganze Nacht habe ich wachgelegen und mir den Kopf zerbrochen, und je mehr ich nachdenke, um so unglaublicher wird die Geschichte.
Als ich im Januar 1901 eingerückt bin – genau vor zwei Jahren –, gehörte der junge Godfrey Emsworth bereits derselben Schwadron an. Er ist der einzige Sohn von Colonel Emsworth – Emsworth, dem Träger des Krimkrieg-Viktoria-Kreuzes26 –, er hat Kämpferblut, und so war es kein Wunder, daß er als Freiwilliger diente. Es gab im Regiment keinen feineren Burschen. Wir schlössen Freundschaft – jene Art von Freundschaft, die sich nur entwickeln