Sophienlust Box 15 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
den beiden anderen Patientinnen war die Krankheit nicht so stark zum Ausbruch gekommen wie bei Bärbel. Sie waren bereits in der Lage, ihre Tropfen selbst zu nehmen. Trotzdem ließ Anja Frey in ihrer Aufmerksamkeit nicht nach. Gestern noch hatte sie Denise gegenüber am Telefon behauptet, dass sie die drei Kinder durchbringen würde. Doch heute hatte sich Bärbels Zustand wieder etwas verschlechtert. Sobald die drei Kinder schliefen, ließ sich Anja telefonisch mit dem Chefarzt des Maibacher Krankenhauses verbinden. Da er mit seinem Ärzteteam gerade bei der Visite war, musste Anja geraume Zeit warten, bis sie mit ihm sprechen konnte. Sie schilderte ihm Bärbels Zustand, die genaue Dosierung der Medikamente, die sie dem Kind gab, und das stets gleichbleibende Fieber.
Doch der erfahrene Chefarzt beruhigte seine junge Kollegin. »Das Fieber des Kindes wird sich meiner Vermutung nach noch einige Tage auf der gleichen Höhe halten«, stellte er fest. »Aber das ist eigentlich kein Grund zur Beunruhigung. So eigenartig es klingen mag, es ist trotzdem ein Zeichen dafür, dass die Krankheit normal verläuft und ganz allmählich eine Besserung eintritt.« Dann beschrieb er Anja noch den Verlauf der gleichen Krankheit bei Patienten in seinem Krankenhaus.
Beruhigt verabschiedete sich die Ärztin schließlich von ihrem erfahreneren Kollegen.
Bevor sie sich an den Schreibtisch setzte, um die Krankheitsaufzeichnungen zu vervollständigen, schaute sie noch einmal in das Krankenzimmer. Aber die drei Kinder schliefen friedlich. Mit einem erleichterten Lächeln schloss Anja behutsam die Tür und ging zurück zu ihrem Arbeitstisch.
*
Vierzehn Tage waren Corinna und Jochen nun schon unterwegs. Vierzehn wunderschöne, vom Glück verzauberte Tage. Jeder neue Morgen, jeder Sonnenstrahl erschien ihnen wie ein Geschenk, weil sie dies alles gemeinsam erleben durften. Jeden Morgen waren sie zu neuen Touren aufgebrochen, hatten sonnendurchglühte Mittagsstunden in trauter Zweisamkeit auf blühenden Almwiesen oder hoch oben im schroffen Felsgestein verbracht. Fast nie waren ihnen Menschen begegnet. Sie hatten das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Und in dieser Einsamkeit, inmitten der stummen, steinernen Zeugen, lernten sie einander so gründlich kennen, dass sie glaubten, schon ein Leben lang zusammenzugehören.
An einem heißen Mittag beendeten die beiden eine schöne, aber anstrengende Tour. Sie waren schon um vier Uhr früh aufgebrochen, um die kühlen Morgenstunden zu nutzen. Jetzt saßen sie am Ende eines steilen Felskars an eine Felswand gelehnt und hielten Mittagsrast.
Lautlos huschte ein schwarzer Schatten über sie hinweg. »Ein Adler«, flüsterte Jochen, und Corinna hob neugierig den Kopf. Aber so lautlos, wie er gekommen war, verschwand der seltene und stolze Vogel wieder.
Corinna schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an Jochens Schulter. Ganz von fern tönte das Läuten der Kirchenglocken zu ihnen herauf. »Im Dorf läutet es zu Mittag«, sagte Corinna.
Jochen nickte träge. »Aber wir sind hier oben allein. Allein auf der Welt.«
Damit hatte er ausgesprochen, was Corinna fühlte. Sie tastete nach seiner Hand. »Ich möchte dir für etwas danken, Jochen. Für deine Geduld und für dein Verständnis. Ich verstehe heute nicht mehr, warum ich meinem Glück so lange aus dem Weg ging. Aber ohne deine Geduld wären wir wahrscheinlich nie so glücklich geworden, wie wir es heute sind.«
Er hauchte ihr einen unendlich zarten Kuss auf die Wange. »Das Wichtigste ist, dass wir einander gefunden haben.«
Als die Sonne ihr schattiges Fleckchen erreichte, löste sich Corinna aus Jochens Armen und stand auf. »Bist du nicht hungrig?«
»Aber ja, und wie«, bestätigte er, denn sie hatten seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen.
Corinna öffnete den Rucksack und breitete eine karierte Leinendecke auf dem glatten Felsblock aus, den sie als Tisch benutzten. Darauf stellte sie eine Thermosflasche mit Tee und all den Proviant, den sie auf ihren Bergtouren immer mit sich führten. Es war eine einfache Mahlzeit, die sie einnahmen, aber sie schmeckte ihnen besser als das großartigste Menü.
Nach dem Essen ruhten sie ein wenig, den Rücken an den sonnenwarmen Felsen gelehnt und den frischen Duft der Almwiesen, der zu ihnen heraufwehte, einatmend. Corinna spürte noch, wie ihr Kopf zur Seite sank. Dann nickte sie ein in dem beglückenden Bewusstsein, den geliebten Mann an ihrer Seite zu wissen.
Der Schrei einer Dohle weckte sie nach zwanzig Minuten. Sie wandte den Kopf und betrachtete Jochens im Schlaf entspanntes Profil. Wie beruhigend seine Züge wirkten! Es war ein schöner Gedanke, sich die Zukunft an seiner Seite auszumalen. Auch Bärbel würde sich freuen, wieder einen Vati zu bekommen. Sie hing ohnehin mit abgöttischer Liebe an Jochen.
Plötzlich, als habe er ihren Blick gespürt, öffnete Jochen die Augen. Ein heller Funke sprang in seinen Augen auf, als er die Arme nach ihr ausstreckte und sie an sich zog. »Liebes«, murmelte er und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Wie sehen unsere Pläne für den Nachmittag aus?«, fragte er nach einer Weile, als Corinna sich wieder aus seinen Armen löste.
»Ich möchte in Sophienlust anrufen, um zu erfahren, wie es Bärbel geht.« Diese Bitte hatte Corinna in den vergangenen Tagen schon des öfteren geäußert. Nur waren sie nie in die Nähe eines größeren Ortes gekommen, von dem aus das Telefonieren möglich gewesen wäre.
Jochen wusste, dass sich Corinna um Bärbel sorgte und dass sie erst dann wieder ruhig werden würde, wenn sie erfahren hatte, dass es dem Kind gut ging. Deshalb war er ebenfalls dafür, dass sie in Sophienlust anrief. »Wenn wir jetzt absteigen, sind wir in ein bis zwei Stunden bei unserem Wagen und können zu dem nächsten größeren Ort fahren, um anzurufen«, schlug er vor.
Sie dankte ihm mit einem zärtlichen Blick. »Lieb von dir.«
Der Weg ins Tal führte durch saftige Wiesen und kleinere Waldstücke. Er war sehr angenehm zu gehen. Schneller als erwartet kamen sie ins Tal und zu ihrem Wagen. Der Weg in den nächsten Ort betrug nur eine Viertelstunde Fahrzeit.
Jochen begleitete Corinna in das Postamt und stand neben ihr, als sie das Ferngespräch nach Sophienlust anmeldete. Mit einem erwartungsvollen Lächeln sah er sie in die altmodische Telefonzelle gehen und den Hörer abheben. Während der ersten Worte umspielte noch immer das Lächeln ihre Züge. Doch plötzlich verkrampfte sich Corinnas Hand im Aufschlag ihrer Bluse. Von einer Sekunde zur anderen verfiel ihr Gesicht. Der fröhliche Ausdruck wich einem verzerrten Schmerz.
»Krank? Meine Bärbel ist krank?«, rief Corinna mit angstvoller Stimme in den Hörer. Sie hörte die Bestätigung der Heimleiterin, wusste aber immer noch nicht, um welche Krankheit es sich handelte. »Ist es eine Erkältung, Husten oder Schnupfen?« Ihre Stimme war fast ein Flehen. Aber noch bevor sie eine Antwort erhielt, kam Denise von Schoenecker selbst an den Apparat.
Sehr behutsam und vorsichtig machte sie Corinna klar, dass die kleine Bärbel nicht an einem Husten oder Schnupfen, sondern an einer sehr schweren Krankheit litt.
Corinna hatte das Gefühl, alles Blut ströme ihr aus ihrem Herzen. Ihre Knie wurden weich, doch sie wollte jetzt nicht schlappmachen. Sie musste erfahren, was Bärbel fehlte. »Bitte, Frau Schoenecker, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was meiner Bärbel fehlt. Ich bin völlig gefasst«, erklärte sie.
Trotz dieser Beteuerung zitterte ihre Stimme hörbar. Denise hörte es, doch sie fühlte sich verpflichtet, Corinna die ganze Wahrheit zu sagen. Deshalb sprach sie das furchtbare Wort Hirnhautentzündung aus, das Corinna wie ein Blitzschlag traf. Mehr Unheil hätte ein Blitz aus heiterem Himmel auch nicht anrichten können.
Der Hörer glitt aus Corinnas Hand. Sie selbst konnte sich gerade noch an der Wand stützen, sonst wäre sie zu Boden gesunken.
Jochen war sofort an ihrer Seite in der Telefonzelle. Er nahm den Hörer und wollte selbst mit Denise von
Schoenecker sprechen, doch Corinna hatte sich bereits so weit gefangen, dass sie das Gespräch beenden konnte. »Ich fahre augenblicklich zurück nach Sophienlust«, sagte sie.
»Es hat keinen Zweck, dass Sie Ihren Urlaub vorzeitig abbrechen, Frau Saller«, versuchte Denise der jungen Frau klarzumachen. »Sie dürfen Bärbel ohnehin nicht sehen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Ihr Kind die Krise bereits