Die Frauen von Janowka. Helmut ExnerЧитать онлайн книгу.
Natalie Exner
Tochter von Serafine und Friedrich Exner
Pauline Rattai senior, geb. Ehmke
Ehefrau von Karl Rattai, Mutter von Rudolf und Serafine, Urgroßmutter von Helmut Exner
Pauline Rattai junior, geb. Ehmke
Ehefrau von Rudolf Rattai
Robert Exner
Tuchfabrikant in Rozyscsze, Bruder von Karl Exner, Vater von Rudolf (Ralph) und Jacob (Jack) Exner
Rudolf (Ralph) Exner
Sohn von Robert Exner
Rudolf Rattai
Verheiratet mit Pauline Ehmke junior, Sohn von Pauline senior und Karl Rattai, Bruder von Serafine Exner
Serafine Exner
Verheiratet mit Friedrich Exner, Tochter von Karl und Pauline Rattai sen., Großmutter von Helmut Exner
Wilhelmine Ehmke
Cousine von Serafine, Großmutter von Miles
Prolog
Wo ist Wolhynien?
Diese Frage stellte ich mir vor einigen Jahren, als ich anfing, in die Vergangenheit einzutauchen. Es ist eine Landschaft im Nordwesten der Ukraine und hat eine bewegende Geschichte hinter sich. Vor allem bewegend für die Menschen, die dort gelebt haben. Mehrere Generationen meiner Vorfahren wurden dort geboren, haben dort geheiratet, Kinder bekommen und ruhen in wolhynischer Erde. Mit der Generation meiner Großeltern wurde alles anders. Wenn ich heute Kontakt zu meinen Verwandten suche, brauche ich nicht nach Wolhynien zu fahren, denn dort ist niemand mehr, den ich kenne. Die Menschen, die dort einst gelebt haben, wurden über Kontinente hinweg verstreut, haben ein neues Leben angefangen. Die Nachfahren der einstigen Wolhynier deutscher Herkunft, zu denen auch ich gehöre, findet man überall, nur nicht in Wolhynien. Die, die sich einst als Wolhynier fühlten, sind heute Deutsche, Polen, Amerikaner, Kanadier, Australier, Brasilianer, Argentinier.
Und trotzdem, da ist etwas geblieben, was sich unbewusst fortpflanzt, von Generation zu Generation. Die Werte der multikulturellen und multireligiösen wolhynischen Gesellschaft. Dazu gehören Gottvertrauen, Toleranz und Sprachenvielfalt. Aber auch ganz alltägliche Dinge wie Essgewohnheiten und die Verbundenheit zum ländlichen Leben sind selbst nach hundert Jahren bei den Nachkommen erstaunlich oft zu finden.
In Wolhynien nimmt meine Geschichte ihren Anfang. Das heißt, es ist nur zum kleinen Teil meine Geschichte, sondern vor allem die von vier großartigen Frauen: meiner Urgroßmutter Christine, meiner Großmutter Serafine und meiner Großtanten Mathilde (Katlika) und Martha. Es waren vor allem diese Frauen, die die Geschicke der Familie in die Hand nahmen und ihnen den Weg in ein neues Leben wiesen. Ohne die Tatkraft dieser Frauen gäbe es diese Familie nicht mehr.
Wolhynien 1904
- Kapitel 1 -
»Friedrich, komm aus dem Wasser raus! Du sollst noch die Butter zum Juden bringen.«
Die zehnjährige Mathilde stand am Ufer des kleinen Flüsschens, um ihren Bruder nach Hause zu holen, wie die Mutter es ihr aufgetragen hatte. Friedrich, achtzehn Jahre alt und der älteste Sohn der Familie Exner, schwarzhaarig und drahtig-schlank, war nach einem harten Arbeitstag auf dem Feld mit anderen Jungen und Männern in den halb ausgetrockneten Fluss gewatet, um sich abzukühlen. An Schwimmen war bei diesem Wasserstand nicht mehr zu denken.
»Dann dreh dich um, wenn ich rauskommen soll, oder willst du deinen Bruder nackt sehen?«
Das Mädchen hielt sich die Hände vors Gesicht, während die anderen Jungen gröhlten und unflätige Bemerkungen machten.
Es war nur ein Weg von zweihundert Metern bis zu seinem Elternhaus, einem einfachen, aber soliden Steingebäude, das unten aus einer großen Küche und einer kleinen, guten Stube und oben aus drei Schlafräumen bestand, die über eine steile Treppe zu erreichen waren.
»Na, hast du deinen Dreck im Fluss abgewaschen?«, fragte Christine, die Mutter der Familie, die gerade am Herd beschäftigt war. »Nimm das Pferd und reite rüber nach Solomiak, damit der junge Salomon seine Butter kriegt. Er soll heute auch bezahlen; der Monat ist ja schon wieder rum. Das Geld kann ich gut gebrauchen.«
»Und warum muss ich nach Solomiak reiten? Ist Gottlieb noch nicht da?« entgegnete Friedrich. »Der ist noch beim Hinz; es kann heute spät werden mit dem Mähen. Nun mach schon, und wenn du wiederkommst, gibt es was zu essen.«
Gottlieb war Friedrichs sechzehnjähriger Bruder, der zur Zeit bei einem Nachbarn helfen musste, weil der Vater der Familie durch einen Sturz vom Pferd außer Gefecht gesetzt war. Außer Friedrich, Gottlieb und Mathilde hatten Karl und Christine Exner noch die achtjährige Martha. Mehrere Kinder waren früh gestorben.
Die Exners lebten von der Landwirtschaft, wie fast alle in dem kleinen von Deutschen bewohnten Dorf Janowka am Flüsschen Slusz. Christine, die Chefin der Familie, was natürlich nie jemand laut sagte, war Anfang vierzig, klein und dünn, dunkelhaarig, hatte braun-grüne Augen, die einem direkt in die Seele schauen konnten. Sie organisierte die Arbeit, auch die ihres Mannes Karl, ohne dass dieser es merkte, sagte wer was zu machen hatte und verwaltete das Geld. Wenn die meist jüdischen Getreide- oder Viehhändler kamen, war sie es, die ihrem Mann zunickte oder dezent mit dem Kopf schüttelte, um ein Geschäft zu machen oder weiter zu verhandeln. Neben der Hausarbeit kümmerte sie sich vor allem um das Vieh und den großen Hausgarten, half beim Heumachen und der Getreideernte mit, um ihrem Mann zu ermöglichen, noch etwas als Handwerker dazu zu verdienen. Es ging ihnen nicht schlecht.
Natürlich gab es auch arme Leute in der Gegend. Es gab arme Deutsche, die hier ebenso wie irgendwo anders nie auf einen grünen Zweig kamen. Und es gab arme Ukrainer, Polen und Russen, die es nicht geschafft hatten, nach Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 ihre Geschicke in die Hand zu nehmen. Es gab Leute, die lebten von der Hand in den Mund. Mancher Familie blieb nichts anderes übrig, als in Erdhütten zu hausen. Auch demjenigen, der seine Gesundheit und damit seine Arbeitskraft eingebüßt und keine Familie hatte, die ihn auffing, ging es oftmals schlecht. Das wirkungsvollste soziale Netz in dieser Zeit war eine große Familie, zu der auch weiter entfernte Verwandtschaftsgrade gerechnet wurden. Die Kirche war für Almosen zuständig, die Nachbarn für schnelle praktische Hilfe, für eine wirkungsvolle und dauerhafte Hilfe aber gab es die Familie. Daher verwundert es auch nicht, dass oft ganze Sippen gemeinsam oder nach und nach ausgewandert waren. Fast jeder im Dorf hatte eine umfangreiche Verwandtschaft in der Gegend, die sich durch Heirat ständig vergrößerte.
Man fühlte sich als Wolhynier, erst danach als Deutsche. Wolhynien, dieses Land im Nordwesten der Ukraine, war lange Zeit polnisch gewesen. 1792, nach der dritten polnischen Teilung, hatte der russische Zar das Land vereinnahmt. Als dessen Untertanen lebte man nicht schlecht. Im gesamten 19. Jahrhundert waren schon Deutsche hier eingewandert. In den 1860er Jahren, als viele der ehemaligen Leibeigenen den Gutsbesitzern davongelaufen waren, vergrößerte sich die Einwanderung. Aber es gab nur wenige, die als Knecht und Magd arbeiten wollten. Das hätte man in Deutschland auch gekonnt. Wer hierher kam, wollte sein eigener Herr sein, egal wie klein die eigene Scholle war oder wie hart man dafür arbeiten musste. Also blieb vielen Großgrundbesitzern nichts anderes übrig, als Teile ihres Landes zu verpachten oder zu verkaufen. Viel Land lag auch noch brach und wartete darauf, urbar gemacht zu werden. Die Leute rodeten Wald und legten Sümpfe trocken. Der Zar schaute auf dieses Treiben seiner neuen Untertanen mit großem Wohlwollen.
Wolhynien erlebte nach dem Zuzug der vielen Deutschen, die besonders seit den sechziger Jahren hier Fuß fassten, eine wahre Blütezeit. Die Wirtschaft florierte. In den größeren Orten gab es