Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
gewesen wäre, wäre Felicitas viel lieber nach Hause gelaufen, in ihr Bett gekrochen und hätte die Bettdecke über den Kopf gezogen, wie sie es als Kind getan hatte. Doch leider waren diese Zeiten ein für alle Mal vorbei. Nach einem Kuss machte sie sich auf den Weg.
*
»Guten Abend, Frau Kraft.« Die Chefsekretärin Andrea Sander stand an ihrem Schreibtisch und blickte hoch, als Lenni, die ehemalige Haushälterin der Familie Norden, eintrat. »Was kann ich für Sie tun?«
Inzwischen waren nur noch zwei der fünf Kinder zu Hause, und Fee und Daniel arbeiteten die meiste Zeit, sodass Lennis Hilfe nur noch selten gebraucht wurde. Nicht um Ideen verlegen, hatte sie sich nach einer anderen Aufgabe umgesehen und prompt im Klinikkiosk gefunden, den Tatjana neben dem Café ›Schöne Aussichten‹ betrieb. Mit ihrer schnoddrigen Art war Lenni schon bald in der ganzen Klinik bekannt und beliebt.
»Ich habe einen Termin bei Dr. Norden.«
Überrascht sah Andrea in ihren Kalender.
»Komisch. Der Chef hat doch heute frei.«
»Das ist schon alles in Ordnung. Wir zwei brauchen keinen Terminkalender.«
In ihre Worte hinein klopfte es.
»Ist Dr. Norden zu sprechen?«, fragte der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs.
»Tut mir leid, er hat heute frei«, wiederholte Andrea Sander.
»Heute kümmert er sich ausnahmsweise einmal nur um mich«, ergänzte Lenni schnippisch.
»Das werden wir ja sehen.« Dieter Fuchs ging an den beiden Frauen vorbei Richtung Bürotür, als hinter ihm Daniel Nordens Stimme erklang.
»Lenni, wunderbar! Sie sind ja schon da! Dann können wir gleich anfangen.« Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie aus dem Büro.
Fassungslos starrte Dieter Fuchs den beiden nach.
»Moment, Herr Dr. Norden, ich müsste Sie kurz in einer dringenden Angelegenheit sprechen! Es geht um die Kürzung der Assistenzarztstellen.«
Der Klinikchef steckte den Kopf noch einmal herein.
»Sobald ich fertig bin, melde ich mich bei Ihnen, Herr Fuchs.«
»Ach, Chef, was soll ich denn den anderen Besuchern sagen, die womöglich noch hereinschneien?«, schickte Andrea Sander eine Frage hinterher.
»Dass ich heute frei habe und ab morgen früh wieder zu sprechen bin.« Daniel zwinkerte ihr zu, ehe er endgültig verschwand.
»Das ist ja wohl die Höhe!« Ungläubig starrte der Verwaltungsdirektor den beiden nach.
Auf dem Weg ins Behandlungszimmer lachte sich Lenni ins Fäustchen.
»Das war großartig. Sie haben ja wirklich was von mir gelernt.«
Daniel schickte ihr einen amüsierten Seitenblick, sagte aber nichts und hielt ihr stattdessen galant die Tür auf.
»Wer kümmert sich denn inzwischen um den Kiosk?«
»Das erledigt Oskar. Hoffentlich lässt er sich nicht wieder von irgendwelchen hübschen Frauen über den Tisch ziehen.«
»Das glaube ich nicht. Dazu hat er viel zu viel Angst vor Ihnen.« Daniel schloss die Tür und komplimentierte Lenni auf die Behandlungsliege.
Während sie den Ärmel zum Blutdruckmessen hochkrempelte, musterte sie ihn misstrauisch.
»Wie meinen Sie denn das?«
Um sich nicht mit einer Antwort um Kopf und Kragen zu reden, steckte Daniel Norden schnell das Stethoskop in die Ohren und begann mit der Untersuchung.
*
»Spüren Sie das?« Christine Lekutat fuhr mit dem Kugelschreiber über das Schienbein ihres Patienten.
Laurenz schloss die Augen und konzentrierte sich.
»Nein.«
»Und das hier?« Sie versuchte es am anderen Bein.
Er schüttelte den Kopf.
»Was hat das zu bedeuten?«
Christine Lekutat zog den Bildschirm des Computers heran und deutete auf die Aufnahme aus der Radiologie.
»Durch den Aufprall hat sich dieser Wirbelknochen verschoben.« Sie umkreiste einen hellen Fleck auf dem Monitor. »An dieser Stelle hat sich im Rückenmarkskanal eine Flüssigkeitsansammlung gebildet. Aufgrund der knöchernen Anteile im Wirbelkörper kann der Kanal dem Druck nicht nachgeben. Folge ist eine Quetschung der Nervenbahnen.« Sie schob den Bildschirm wieder weg und sah Laurenz ernst, aber bestimmt an. »Sie merken ja selbst, dass die Nerven keine Reize mehr weiterleiten.«
»Und was kann man dagegen tun?« Die Sorgen standen ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wir operieren.« Christine Lekutat stand auf, ging zum Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer. Ihr Blick ruhte auf ihrem Patienten. »Dabei entfernen wir ein möglicherweise vorhandenes Hämatom und erweitern den Wirbelkanal. Nach dem Eingriff bekommen Sie abschwellende und entzündungshemmende Medikamente. Danach sollte alles wieder in Ordnung sein.« Sie wählte eine Nummer und wartete.
»Und was, wenn nicht?« Laurenz Stimme zitterte.
»Dann bekommen Sie einen hübschen Rollstuhl«, erwiderte die Chirurgin unbarmherzig. In diesem Moment meldete sich ihr Gesprächspartner. »Herr Dr. Norden? Hier spricht Lekutat. Wir müssen operieren.«
Schweigend hörte Daniel zu, was die Kollegin ihm zu sagen hatte. Mit jedem Wort wurde sein Herz schwerer.
»Ein unachtsamer Moment, und schon sind drei Leben in Gefahr«, murmelte er.
»Nichts für ungut, Chef. Aber wir wollen es mal nicht übertreiben«, wies Christine Lekutat den Klinikchef zurecht. »Ein Rollstuhl ist ja noch lange kein Todesurteil.«
»Der Mann ist werdender Vater«, brauste Daniel auf. »Können Sie sich vorstellen, dass seine Frau nicht gerade davon träumt, nicht nur einen Kinderwagen, sondern auch ihren Mann zu schieben? Vorausgesetzt, das Kind überlebt die Sache überhaupt.« An seine Frau wollte er in diesem Moment gar nicht denken. Fee würde es sich niemals verzeihen, wenn ihre Freunde nicht wieder gesund wurden. Schnell schob er diesen Gedanken beiseite. Noch war nichts verloren. »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich werde bei der OP dabei sein.« Er legte auf und starrte blicklos vor sich hin, ehe Leben in ihn kam.
Dr. Lekutat dagegen kehrte zu ihrem Patienten zurück.
»Na bitte! Sie haben es selbst gehört! Heute ist Ihr Glückstag. Der Chef persönlich kümmert sich um Sie.«
Laurenz stöhnte auf und schloss die Augen. Er wusste nicht, was schlimmer war. Diese Chirurgin oder die Aussicht darauf, im Rollstuhl zu landen.
*
Auch Sandra Neubeck hatte inzwischen von dem Fahrradunfall erfahren. Dieser Zufall kam ihr gerade recht. Ohne Zögern machte sie sich auf den Weg, um die frisch geschlossene Bekanntschaft vom Mittag gleich zu vertiefen. Sie suchte und fand den Gynäkologen Theo Gröding im Aufenthaltsraum der Ärzte.
Er saß allein am Tisch, eine Tasse Kaffee in der Hand und eine Patientenakte vor sich.
»So ganz allein?«, schützte sie Überraschung vor. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«
»Natürlich.« Sofort schob Theo die Akte von sich. Im Gegensatz zu Christine Lekutat – ihr Spitzname lautete ›Feldwebel‹ – war Sandras Gesellschaft eine wahre Wohltat. »Bitte, setz dich. Auch einen Kaffee?«
»Nein, danke. Sonst brauche ich am Ende noch einen Herzspezialisten.«
»Den hast du ja schon an der Hand.«
»Du meinst Matthias?« Lächelnd winkte Sandra ab. »Wie geht es der schwangeren Frau, die vorhin eingeliefert wurde?«
»Ich hoffe, das Problem mit einer hohen Dosis Magnesium in den Griff zu bekommen.«