Elfenzeit 7: Sinenomen. Susanne PicardЧитать онлайн книгу.
erschaffen. Ihr Schatten zuckte über den Boden. Nadja rannte auf sie zu.
»Catan!«, schrie sie. »Warte!«
Der Elf drehte sich um. Seine gelben Katzenaugen leuchteten. Er hielt Talamh im Arm und strich mit einer Pranke langsam über seinen Kopf. Nadja verstand die Drohung. Abrupt blieb sie stehen. Catan war weniger als zwei Meter entfernt.
»Komm nicht näher«, sagte er.
»Bitte tu ihm nichts.« Der Klang ihrer Stimme schien Talamh zu beruhigen. Er hörte auf zu schreien.
Catan warf einen Blick auf das Portal, das neben ihm entstand. Es sah aus, als schwänge eine Tür langsam auf. Licht drang durch den größer werdenden Schlitz. Wenn Catan mit Talamh durch das Portal ging, war alles vorbei, das war Nadja klar.
»Ich komme mit dir«, stieß sie atemlos hervor. »Gib Talamh frei, dann ergebe ich mich Bandorchu. Ich werde nicht versuchen zu fliehen, du hast mein Wort.«
»Das Wort einer verzweifelten Mutter.« Catan zog die Lefzen hoch. Seine Reißzähne glitzerten feucht. »Du würdest es bei der ersten Gelegenheit brechen, um zu deinem Sohn zurückzukehren.«
»Das würde ich …«
Er unterbrach sie mit einer Geste. Sein Blick glitt an Nadja vorbei in den Tunnel hinein. Er schien etwas zu hören.
»Ich bin kein grausamer Mann«, sagte er dann. »Ich werde dich nicht bitten und betteln lassen. Talamh kommt mit mir, denn ich habe für ihn ein weitaus besseres Angebot als für dich bekommen. Das ist die Wahrheit.«
Er wandte sich dem Portal zu.
»Nein!« Nadja warf sich auf ihn, aber er war schnell, viel zu schnell. Ihre Fingerspitzen strichen noch über Fell, dann war er schon mit einem Sprung im Portal verschwunden.
»Nein …« Nadjas Beine knickten unter ihr ein. Sie sackte auf den Lehmboden, starrte wie betäubt auf das Portal in der Tunnelwand.
»Nadja!« Robert tauchte plötzlich neben ihr auf. Seine Jacke war zerrissen, blutige Striemen bedeckten seine Hände. Anne lief an ihm vorbei, ergriff zuerst seinen Arm, dann Nadjas, riss sie mit einem schmerzhaften Ruck vom Boden hoch. Der Schwung trieb Nadja auf das Portal zu – und hindurch.
5.
Wo Milch und Honig fließen
Jimmy Raunga Roimata langweilte sich.
Diese wöchentlichen Versammlungen nervten ihn. Nicht genug, dass er im Internat in New Plymouth schon immer die morgendlichen Zusammenkünfte abreißen musste – nein, sein Großvater erwartete sogar am Wochenende von ihm, dass er dabeisaß und mit der Gemeinde nicht nur den Gottesdienst, sondern auch die Angelegenheiten durchsprach, die für das Zusammenleben in Pukearuhe eine Rolle spielten und insoweit für den Ngati-Tama-Stamm von Bedeutung waren.
Der Sechzehnjährige wäre viel lieber surfen gegangen. Um diese Jahreszeit war das Wetter dafür ideal. Und heute schien auch noch die Sonne. Er konnte den Impuls, aufzuspringen, sich den Pick-up seines Onkels zu schnappen und damit an den Strand zu fahren – möglichst weit weg von Pukearuhe –, kaum unterdrücken.
Jimmy versuchte, sich etwas bequemer hinzusetzen und gab sich dabei kaum Mühe leise zu sein, doch seine Großtante, die Ehefrau des ariki, des Oberhaupts des Stammes und ihrer Würde sehr wohl bewusst, stieß ihn heftig von der Seite an.
Mit einem mauligen Stöhnen setzte Jimmy sich geräuschvoll auf. Glücklicherweise begann die Gemeinde jetzt mehr schief als schön das letzte Lied des von Brauchtum durchsetzten Gottesdienstes zu singen, die Nationalhymne. Jimmy fiel automatisch mit ein, denn er musste jeden Morgen nach dem Frühstück die Hymne anstimmen. Auch das verlangte Tamati Waka Nene von seinen Untertanen, denn er war nicht nur das Oberhaupt des Ngati-Tama-Stamms, sondern auch der tohunga, der Schamane.
Der Sechzehnjährige warf einen vorsichtigen Blick auf seine Tante Whetu, die als Frau des ariki so etwas wie die oberste Sittenwächterin war und vor ihm saß. Als er sah, dass sie ihre Augen andächtig auf ihren Gatten gerichtet hatte, der neben dem tohunga vorn stand und soeben anfing, die weltlicheren Dinge anzusprechen, die in der kleinen Gemeinde eine Rolle spielten, rutschte er wieder tiefer in die Bank. Diesmal bemühte er sich, weniger Lärm zu machen.
Jimmy hielt nichts von dem Budenzauber, wie er das nannte, den sein Großvater allsonntäglich zusammen mit seinem Bruder, dem ariki, im Versammlungshaus, dem whare hui, abhielt. Am liebsten wäre er wieder ins Internat zurückgegangen, auch wenn er sich dort langweilte. Seine Mitschüler waren bis auf ein paar coole Typen einfach nur blöd. Aber mit denen, mit Trevor, Kuri und Adam, hätte er wenigstens surfen gehen können. Eins wusste er genau – sobald er achtzehn war, würde er nach Wellington abhauen. Er, Trevor und Adam wollten am dortigen College Informatik studieren. Nur noch siebzehn Monate, die kriege ich auch noch rum, dachte er, während er sich auf einen strengen Blick von Tante Whetu hin widerwillig aufrecht hinsetzte. Der formelle Teil der sonntäglichen Versammlung war vorbei, jetzt wurde diskutiert. Onkel Tearoa sortierte seine Abrechnungen und rückte wie immer seine Brille zurecht, während er referierte, was wohl die neuen Zäune kosten würden und die Reparatur der Stromleitungen. Es wurde besprochen, wie groß die Feier zur Taufe von Cousine Huhanas Baby ausfallen würde und – zu guter Letzt – wen Tamati Waka Nene als seinen Nachfolger auswählen würde. Natürlich war es Großmutter Maata, die das Thema ansprach. Auch das war jeden Sonntag dasselbe.
Jimmy wusste, dass er die Nachfolge antreten müsste, und deshalb hörte er gar nicht hin. Jeden Sonntag hier zu stehen und über Zaunreparaturen zu reden, gehörte nicht zu seinen Zukunftsplänen. Sollte doch Bill Mokau, sein Cousin und der jüngere Bruder von Huhana, das übernehmen. Oder Jimmys ältere Schwester Mahine, der hätte das gefallen. Sie war Krankenschwester in Inglewood, vier Jahre älter als er und kannte all die Sagen und Legenden auswendig, die Großmutter Maata immer vor dem Einschlafen erzählt hatte.
Doch er war der älteste männliche Enkel und sein Großvater hatte sich bis jetzt nicht damit arrangieren können, seine Würde als tohunga einer Frau zu übergeben. Jimmy war allerdings fest entschlossen, auf diesen ganzen andersweltlichen Unsinn aus Sagen und Märchen zu verzichten. Er wusste, in Wellington oder Auckland wurden Computerexperten gesucht, und er kannte sich ein wenig mit Spieleentwicklung aus. Was gab es hier in Pukearuhe denn schon anderes zu tun, als abends World of Warcraft zu spielen oder eigene kleine Spiele zu schreiben? Und wenn es in Wellington nichts damit wurde, dann konnte er immer noch nach Sydney gehen.
Da war wenigstens was los, im Gegensatz zu seinem Heimatdorf, wo man abends die paar Bürgersteige, die es gab, hochklappte, weil angeblich Erdgeister umgingen.
Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, einmal vor der Gemeinde im Versammlungsraum zu stehen und die jährlichen Rituale im September zu vollziehen. Jimmy hielt das für rückständig. Keiner wollte doch heutzutage mehr wissen, ob in irgendeiner uralten Zeit, die keinerlei Rolle mehr spielte, eine Handvoll Maori auf einem wackligen Einbaum-Ausleger ausgerechnet bei Pukearuhe an Land gegangen war.
Und ihn interessierte auch nicht, dass unter seinen Vorfahren der berühmte Te Rangi Hiroa gewesen war und er – wie sein Großvater nicht müde wurde, zu betonen – gefälligst dessen Erbe würdig anzutreten habe. Angeödet drückte Jimmy sein Knie an die Rücklehne der Bank vor ihm, rutschte noch ein wenig tiefer und legte den Kopf in den Nacken, um die Schnitzereien am Dachfirst zu betrachten. Auch wenn er die Muster längst auswendig kannte. Wie viele Sonntage habe ich schon auf diese Art verschwendet?, fragte er sich und fand es auf einmal interessant, sie zu zählen. Es müsste so ziemlich jeder Sonntag gewesen sein, seit er auf der Welt war, also …
In diesem Moment geschah etwas Unvorhergesehenes, das Jimmy Roimata davor bewahrte, sich an jeden langweiligen Sonntag seines Lebens zu erinnern.
Es pochte laut an der Tür zum Gemeinde-Saal, mitten in die Abrechnung von Onkel Tearoa hinein.
*
Nadja rutschte auf Gras aus und taumelte. Grelles Sonnenlicht blendete sie. Ihr schossen Tränen in die Augen. Verschwommen sah sie den Panther, der mit langen Sprüngen