Die Propeller-Insel. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
scheint eine Neigung zu haben, ihnen unter den Füßen zu entfliehen, obwohl sie sich nicht auf einem der seitwärts weitergleitenden Trottoirs befinden.
»He! He! Halte mich ein – bisschen, Chatillon!« ruft taumelnd Seine Hoheit der Bratschist.
»Ich glaube, wir haben etwas zu viel getrunken«, stammelt Yvernes, indem er sich die Stirn abtrocknet.
»Lassen Sie’s gut sein, meine Herren Pariser, einmal ist ja nicht immer! … Wir mussten doch Ihre Ankunft begießen …«
»Und haben dabei die Gießkanne bis auf den Grund entleert!« fällt Pinchinat ein, der sich dabei nach Kräften beteiligt hat und noch niemals so guter Laune war wie heute.
Unter Leitung Calistus Munbars gelangen sie nun nach einem der Quartiere der zweiten Städthälfte. Hier herrscht weit mehr Leben von minder puritanischem Anstrich, so als wenn man urplötzlich aus den Nordstaaten nach den Südstaaten der Union, aus Chicago nach New Orleans, aus Illinois nach Louisiana versetzt worden wäre. Die Läden hier sind glänzender ausgestattet, die größeren Wohnhäuser sind eleganter, die Villen komfortabler, die Paläste und Hotels ebenso großartig wie in dem protestantischen Stadtteile, und dazu noch von bestrickenderem Aussehen. Auch die Bevölkerung unterscheidet sich durch ihre Haltung, wie ihr Auftreten und Benehmen. Man möchte glauben, hier in einer Doppelstadt, ähnlich den bekannten Doppelsternen zu sein, bis auf den Unterschied, dass sich die beiden Hälften nicht umeinander drehen.
So ziemlich im Herzen der zweiten Hälfte angelangt, bleibt die Gruppe etwa in der Mitte der Fünfzehnten Avenue stehen, und Yvernes ruft:
»Meiner Treu, das ist ein wirklicher Palast!«
»Das Palais der Familie Coverley«, antwortet Calistus Munbar. »Nat Coverley, der Nebenbuhler Jem Tankerdons …«
»Und reicher als dieser?« fragt Pinchinat.
»Das nicht, aber ebenso vermögend«, erklärt der Amerikaner. »Ein Ex-Bankier aus New Orleans, der mehr Hunderte von Millionen als Finger an den Händen besitzt.«
»Ein hübsches Paar Handschuhe, lieber Herr Munbar!«
»Wie Sie das nehmen wollen.«
»Und die beiden Notabeln,1 Jem Tankerdon und Nat Coverley, sind natürlich Feinde …«
»Mindestens Rivalen, die beide in städtischen Angelegenheiten ihr Übergewicht geltend zu machen streben und aufeinander eifersüchtig sind …«
»Und sich schließlich auffressen werden?« fragt Sébastien Zorn.
»Vielleicht, und wenn einer den anderen verschlingt …«
»Das wird einem einen ordentlich verdorbnen Magen geben!« meint die Bratsche.
Calistus Munbar schüttelt sich vor Lachen über den Scherz.
Die katholische Kirche erhebt sich auf einem großen Platze, der ihre glücklich getroffenen Verhältnisse zu bewundern gestattet. In gotischem Stil erbaut, braucht man nicht zu weit zurückzuweichen, um sie betrachten zu können, denn die lotrechten Linien, denen jener Stil seine Schönheit verdankt, verlieren von weither gesehen ihren Charakter. Saint-Mary-Church verdient Bewunderung wegen der Schlankheit ihrer Pinakeln, der Leichtigkeit ihrer Rosetten, wegen der Eleganz ihrer gerippten Wölbungen und der Schönheit ihrer Fenster mit verschlungenem Rankenwerk.
»Ein schönes Beispiel angelsächsischer Gotik!« lässt sich Yvernes vernehmen, der ein begeisterter Liebhaber der Architektonik ist. »Sie hatten recht, Herr Munbar, die beiden Stadthälften gleichen einander ebensowenig, wie der Tempel der einen der Kathedrale der anderen!«
»Und doch, Herr Yvernes, sind die beiden Hälften von einundderselben Mutter geboren …«
»So?… Aber nicht von demselben Vater?« bemerkt Pinchinat dazwischen.
»Gewiss … auch von demselben Vater, meine vortrefflichen Freunde! Sie sind nur in verschiedener Weise hergestellt, indem sie den Bedürfnissen und Wünschen derer angepasst wurden, die hier ein ruhiges, glückliches, sorgenloses Leben suchten – ein Leben, wie es keine andere Stadt, weder in der Alten, noch in der Neuen Welt zu bieten vermag.«
»Beim großen Apoll, Herr Munbar«, antwortet Yvernes, »hüten Sie sich, unsere Neugier allzu sehr zu reizen! Es erscheint, als ob Sie eine musikalische Phrase sängen, die die Tonica zu lange vermissen lässt …«
»Und damit schließlich das Ohr ermüdet«, setzt Sébastien Zorn hinzu. »Ich dächte, der Zeitpunkt wäre gekommen, wo Sie sich entschließen, uns den Namen dieser außergewöhnlichen Stadt nicht länger zu verschweigen.«
»Noch nicht, werte Herren«, erwiderte der Amerikaner, während er das Binokel auf dem Nasenrücken zurechtschiebt. »Gedulden Sie sich bis zum Ende unseres Spaziergangs und lassen Sie uns jetzt weitergehen …«
»Ehe wir das tun«, meldet sich Frascolin, dessen Gefühlen von Neugier sich eine unbestimmte Unruhe beimischt, »hätte ich einen Vorschlag …«
»Und der wäre?…«
»Warum sollten wir nicht den Turm der Saint-Mary-Church ersteigen? Von da aus hätten wir einen vollen Überblick …«
»Nein, das nicht!« wehrt Calistus Munbar ab und schüttelt dazu das buschige Haupt, »jetzt nicht … später einmal …«
»Doch wann?« fragt der Violoncellist, der ob dieser geheimnisvollen Ausflüchte langsam in die Wolle kommt.
»Nach Beendigung unseres kleinen Ausflugs, Herr Zorn.«
»Wir kehren demnach zu dieser Kirche zurück?«
»Nein, liebe Freunde. Wir beschließen unseren Spaziergang durch einen Besuch des Observatoriums, dessen Turm den der Saint-Mary-Church um ein Drittel an Höhe überragt.«
»Ich sehe aber nicht ein«, fährt Frascolin dringender fort, »warum wir die sich hier bietende Gelegenheit nicht benützen sollten …«
»Weil … weil mir damit der Schlusseffekt verdorben würde.«
Eine andere Antwort ist dem rätselhaften Mann nicht zu entlocken.
Da es das beste erscheint, sich ins Unvermeidliche zu fügen, werden die verschiedenen Avenues der zweiten Hälfte gewissenhaft durchwandert. Dem folgt ein Besuch der Handelsviertel, der der Schneider, Schuhmacher, Hutmacher, Fleischer, Gewürzkrämer,