Die Propeller-Insel. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
Erörterungen über die Musik nicht allein als Kunst, sondern auch als therapeutisches Agens. Nach dem Systeme J. Harfords, von der Westminster-Abtei, haben die hiesigen Milliardäre mit der Ausnützung der lyrischen Künste schon ganz erstaunliche Erfolge erzielt. Dieses System gewährleistet ihnen einen Zustand vollkommener Gesundheit. Die Musik übt eine Reflexwirkung auf die Nervenzentren aus, die harmonischen Vibrationen helfen zur Erweiterung der arteriellen Gefäße und beeinflussen den Blutumlauf, den sie nach Bedarf beschleunigen oder verlangsamen. Sie bewirkt eine Anregung der Herztätigkeit und der Atembewegungen je nach Klangfarbe und Intensität des Tones, wobei sie gleichzeitig die Ernährung der Gewebe unterstützt. Deshalb hat man in Millard-City auch Einrichtungen getroffen, durch die beliebige Mengen musikalischer Energie auf telefonischem Wege in die Einzelwohnungen geleitet werden können.
Das Quartett hört ihm mit offenem Munde zu. Noch nie hat es über seine Kunst von medizinischem Standpunkte aus reden gehört, und wahrscheinlich ist es darüber nicht gerade entzückt. Nichtsdestoweniger geht der fantastische Yvernes sofort auf diese Theorien ein, die übrigens – man denke an den berühmten Harfenisten David – bis zurzeit des Königs Saul zurückreichen.
»Jawohl, jawohl! …« ruft er nach der letzten Tirade des Oberintendanten, »das ist ganz richtig. Es gehört nur eine gute Diagnose dazu! Wagner und Berlioz z.B. sind indiziert für anämische Konstitutionen …«
»Gewiss, und Mendelssohn oder Mozart für sanguinische Temperamente, bei denen sie das Strontiumbromür vorteilhaft ersetzen!« fügt Calistus Munbar hinzu.
Da mischt sich Sébastien Zorn ein und schleudert einen rauen Missklang in diese hochfliegende Plauderei.
»Um alles das handelt es sich gar nicht«, ruft er barsch. »Warum haben Sie uns überhaupt hierhergeführt?«
»Weil die Saiteninstrumente es sind, die grade die mächtigste Wirkung ausüben.«
»Wirklich? Also um Ihre männlichen und weiblichen Nervenkranken zu beruhigen, haben Sie unsere Reise unterbrochen, uns verhindert, in San Diego einzutreffen, wo wir morgen ein Konzert geben sollen …«
»Ja, ja, deshalb, meine vortrefflichen Freunde!«
»Und Sie erblickten in uns nichts anderes, als musikalische Karabiner, als lyrische Apotheker?« ruft Pinchinat.
»O nein, meine Herren«, versichert Calistus Munbar sich erhebend. »Ich betrachtete Sie nur als Künstler von großem Talent und weitreichendem Renommee. Die Hurras, die dem Konzert-Quartett bei seinen Reisen durch Amerika entgegendröhnten, sind auch bis zu unserer Insel gedrungen. Da glaubte die Standard Island Company den Zeitpunkt gekommen, die Phonographen und Theatrophone einmal durch wirkliche Virtuosen mit Fleisch und Bein ersetzen und den Milliardesern den unbeschreiblichen Genuss einer unmittelbaren Vorführung der Meisterwerke der Kunst verschaffen zu sollen. Sie wollte dabei und vor der Errichtung eines Opernorchesters mit der Kammermusik den Anfang machen. Dabei dachte sie an Sie, die hervorragendsten Vertreter dieser Musikgattung, und mir gab sie den Auftrag, Sie um jeden Preis hierherzuschaffen, im Notfalle, Sie zu entführen. Sie sind also die ersten Künstler, die in Standard Island auftreten werden, und ich überlasse es Ihnen, sich auszudenken, welcher Empfang Ihnen bevorsteht!«
Yvernes und Pinchinat fühlen sich von den enthusiastischen Worten des Oberintendanten tief ergriffen. Dass die Geschichte auf eine Mystifikation3 hinauslaufen könnte, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Der mehr überlegende Frascolin fragt sich, ob dieses Abenteuer wirklich ernst zu nehmen sei. Doch warum sollte auf dieser ganz außergewöhnlichen Insel nicht auch alles andere ein außergewöhnliches Aussehen haben? Nur Sébastien Zorn beharrt dabei, sich nicht zu ergeben.
»Nein, mein Herr«, ruft er, »man bemächtigt sich fremder Leute nicht in dieser Weise ohne deren Einwilligung! … Wir werden gegen Sie Klage erheben …«
»Klage … wo Sie, Undankbare, mir tausendmal danken sollten?« erwidert der Oberintendant.
»Und es wird uns eine Entschädigung zugesprochen werden, mein Herr …«
»Eine Entschädigung … wo ich Ihnen hundertmal mehr zu bieten habe, als Sie erhoffen könnten …«
»Um was handelt es sich?« fragt der praktische Frascolin.
Calistus Munbar zieht sein Portefeuille hervor und entnimmt ihm ein Blatt Papier mit dem Stempel von Standard Island, das er den vier Künstlern vor Augen hält.
»Ihre vier Unterschriften unter diesen Kontrakt«, sagt er, »und die ganze Angelegenheit ist geregelt.«
»Etwas unterschreiben, ohne es gelesen zu haben?« antwortet die zweite Violine. »Das geschieht nie und nirgends!«
»Sie dürften aber keine Ursache haben, es zu bereuen«, fährt Calistus Munbar fort, der jetzt so heiter wird, dass er von oben bis unten wackelt. »Doch meinetwegen, gehen wir ordnungsmäßig zuwege. Hier habe ich einen Engagementsvertrag, den die Kompanie Ihnen anbietet, ein Engagement für ein Jahr von heute ab, das Sie verpflichtet zur Aufführung derselben Kammermusikstücke, die Ihre Programme in Amerika enthielten. Nach zwölf Monaten wird Standard Island an der Madeleinebai zurücksein, und Sie werden da zeitig genug eintreffen …«
»Für unser Konzert in San Diego, nicht wahr?« ruft Sébastien Zorn, »für San Diego, wo man uns mit Pfeifen empfangen wird …«
»Nein, meine Herren, mit Hips und Hurras! Künstler wie Sie zu hören, fühlen sich alle Leute gar zu geehrt und sind glücklich, wenn sich solche hören lassen … selbst mit einem Jahre Verspätung!«
Mit einem solchen Mann soll einer nun etwas anfangen!
Frascolin ergreift das Blatt und durchliest es aufmerksam.
»Ja, welche Garantie wird uns geboten?« fragte er.
»Die Garantie der Standard Island Company, bestätigt durch die Unterschrift unseres Gouverneurs, des Herrn Cyrus Bikerstaff.«
»Und die Bedingungen sind genau so, wie sie hier stehen?«
»Ganz genau, also eine Million Francs …«
»Für uns vier!« fällt Pinchinat ein.
»Für jeden einzelnen«,