Ängste von Kindern und Jugendlichen. Wilhelm RotthausЧитать онлайн книгу.
im Gespräch mit der Familie als Einzelhypothesen auf ihr Passen zu explorieren und die dadurch gemeinsam gewonnenen neuen Aspekte für neue Ideen bezüglich des weiteren Vorgehens zu nutzen.
Im Gespräch mit dem Patienten und seinen Angehörigen können beispielsweise folgende Fragen gestellt werden, die hier im Anschluss an Schweitzer und Nicolai (2010, S. 119) formuliert sind:
Fragen beim Verhandeln über Diagnosen
Wirklichkeitsfragen: Wer diagnostiziert was?
•Wer hat bereits eine Diagnose geäußert, und wie hat sich das auf die einzelnen Familienmitglieder ausgewirkt?
•Welche Gedanken, Hoffnungen oder Befürchtungen hat die Diagnose bei allen Beteiligten ausgelöst?
•Ist die Diagnose dem Kind gut bekommen?
Hypothetische Fragen: Nehmen wir einmal an …
•Nehmen wir einmal an, die Diagnose sei nicht gestellt worden. Wem ginge es dann besser, wem schlechter?
•Nehmen wir einmal an, es wäre eine andere Diagnose gestellt worden: Hätte das irgendwelche Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten der verschiedenen Familienmitglieder gehabt?
Zirkuläres Fragen: Über die Diagnose sprechen oder schweigen?
•Wenn Ihre Frau Ihren Sohn auf die Diagnose anspricht, bemüht sie sich dann mehr um ein angemessenes Verhalten oder weniger?
•Wenn deine Diagnose im Freundeskreis bekannt würde, hätten die Freunde dann mehr Verständnis für dich oder weniger? Würde der Kontakt zu ihnen enger, oder würden sie sich eher zurückziehen?
•Um eine möglichst präzise diagnostische Einordnung vornehmen zu können, muss man oft zwei oder drei Diagnosen stellen. Würden Sie das eher als eine große Belastung erleben oder eher als sorgfältiges und hilfreiches Bemühen?
•Inwiefern kann der Patient mit der Entscheidung des Diagnostikers gut leben?
•Was soll der Diagnostiker wem (nicht) mitteilen?
•Was will der Patient wem (nicht) mitteilen?
Problem- und lösungsorientierte Fragen: Wozu nützen und was behindern Diagnosen?
•Welche positiven Wirkungen hat die Diagnose (neue Chancen)?
•Welche negativen Nebenwirkungen hat sie (Einschränkungen, Stigmata)?
•Angenommen, die Diagnose könnte verändert werden: Welche Veränderung würde sie »lebbarer« machen?
2.2Angststörungen
2.2.1 Angststörungen generell
2.2.1.1 »Angststörung« als Oberbegriff für unterschiedliche Störungsbilder
Der Begriff »Angst«, eine auf das deutsche und niederländische Sprachgebiet beschränkte Substantivbildung, ist aus dem indogermanischen angh- (»eng«) mit dem Suffix st (»dazugehörig«) entstanden und bedeutet: »Das, was zur Enge gehört.« Der Ursprung des Wortes liegt im lateinischen angustus (»eng«) bzw. angustiae (»die Enge, die Klemme, die Schwierigkeiten«) (vgl. Dudenredaktion 2007; Blankertz u. Doubrawa 2005). Der Begriff verweist also bereits auf ein wesentliches Merkmal der Angst, nämlich das Gefühl der Enge, des zusammengedrückten Brustkorbs, der Einschränkung des freien Atmens. Gleichzeitig kann er dafür stehen, dass der Blick von Menschen mit Angst sich verengt, dass sie nur noch auf die in der Zukunft erwartete Katastrophe fokussieren und die Fülle alternativer Möglichkeiten nicht sehen. Schließlich symbolisiert das Wort die Enge im Sinne einer engen Pforte, durch die die Betroffenen hindurchgehen müssen, damit sich ihnen wieder der Horizont vielfältiger Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet.
Angststörungen manifestieren sich in sehr unterschiedlichen Störungsbildern. Angststörungen im Kindes- und Jugendalter werden in den Klassifikationssystemen ICD und DSM unterschiedlich definiert und zugeordnet. Während im DSM-IV-TR nur die Störung im Zusammenhang mit Trennungsangst den Störungen im Kindes- und Jugendalter zugeordnet wird und bei den übrigen Diagnosen die gleichen Diagnosekriterien wie für Erwachsene gelten (eine Unterscheidung, die im DSM-V aufgehoben wurde), werden im ICD-10 als kinder- und jugendspezifische Angststörungen unter F93 Emotionale Störungen des Kindesalters unterschieden:
•F93.0 Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters
•F93.1 Phobische Störung des Kindesalters
•F93.2 Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (häufig synonym gebraucht mit der generalisierten Angststörung)
•F93.3 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
•F93.80 Generalisierte Angststörung des Kindesalters.
Unter den Störungen, die für Erwachsene und Kinder/Jugendliche gleichermaßen gelten, werden unter F40 phobische Störungen aufgeführt:
•F40.0 Agoraphobie
•F.40.1 Soziale Phobien
•F40.2 Spezifische Phobien.
Unter den sonstigen Angststörungen:
•F41.0 Panikstörung
•F41.1 Generalisierte Angststörung
•F41.2 Angst und depressive Störung gemischt.
2.2.1.2 Häufigkeit von Angststörungen
Angststörungen treten bei Kindern und Jugendlichen sehr oft auf. Ihre Häufigkeit nimmt im Jugendalter noch deutlich zu. Sie gehören zu den Störungen mit der höchsten Prävalenz bei Jugendlichen. Ungefähr 10 % der Jugendlichen erfüllten irgendwann in ihrem Leben die diagnostischen Kriterien einer Angststörung. Studien über das Auftreten von Angststörungen bei Kindern sind relativ selten durchgeführt worden. In einer neueren Studie erfüllen 9,5 % der Achtjährigen die Kriterien einer Angststörung innerhalb der letzten sechs Monate. In dieser Studie waren die häufigsten Angststörungen die spezifische Phobie mit 5,2 %, gefolgt von Trennungsangst mit 2,8 % (Essau et al. 2004, S. 95 f.). Groß angelegte epidemiologische Studien mit Erwachsenen liefern starke Anhaltspunkte dafür, dass viele Angststörungen in Kindheit und Jugendalter beginnen.
In den meisten Studien weisen Mädchen zwei- bis viermal höhere Raten von Angststörungen auf als Jungen. In fast allen Studien wird berichtet, dass Phobien bei Mädchen etwa sechsmal häufiger beobachtet werden als bei Jungen. Die Panikstörung tritt bei Mädchen doppelt so häufig auf als bei Jungen.
2.2.1.3 Komorbidität
Isolierte Angststörungen trifft man – entgegen dem störungsspezifischen Konzept der ICD-10 – in der Praxis nur selten an. Sie treten in über der Hälfte der Fälle zusammen mit anderen psychischen Störungen auf, am häufigsten zusammen mit Depressionen. Dabei gehen die Angststörungen den Depressionen meist voraus. Komorbidität scheint also eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Alloy und Mitarbeiter (1990, zit. nach Essau 2014, S. 134) erklären dies durch eine Veränderung der Kontrollerwartung. Sie zitieren Darwin, der bereits 1872 die Beobachtung gemacht habe: »If we expect to suffer we are anxious, if we have no hope we despair« (»Wenn wir erwarten zu leiden, spüren wir Angst; wenn wir keine Hoffnung haben, erleben wir Verzweiflung«; Übers.: W. R.). Das heißt: Wenn eine Person sich nicht in der Lage erlebt, das Ergebnis ihrer Handlungen zu kontrollieren, ist sie unsicher und reagiert darauf mit Angst. Nimmt der Mangel an Kontrollüberzeugung weiter zu, erlebt die Person einen ängstlich-depressiven Zustand. Geht schließlich die Kontrollerwartung vollständig verloren und besteht die subjektive Gewissheit einer negativen