Das Gassi-Buch für besondere Hunde. Katrien LismontЧитать онлайн книгу.
Was sind „besondere“ Hunde?
Obwohl ich keine Berührungsängste mit der Bezeichnung „verhaltensauffällige Hunde“ habe, wähle ich hier lieber das Wort „besonders“, einerseits, um eine negative, einschränkende Wertung zu vermeiden, und andererseits, weil es vom Lebensumfeld eines Hundes abhängt, inwieweit ein Verhalten als auffällig bewertet wird. In diesem Buch geht es vor allem um Hunde, die, wie ich es nenne, „großes Verhalten“ zeigen. Hiermit meine ich Hunde, die sehr leicht reizbar sind, laut, körperlich und kraftvoll auf Reize reagieren und ihre Menschen damit fast täglich an ihre Grenzen bringen. Verhalten, das im Alltag mehr oder weniger stark belastend ist, obwohl all diese Hunde von ihren Haltern gern gemocht oder sogar innig geliebt werden. Selbstverständlich gibt es auch andere Verhaltensweisen, die draußen zu starken Einschränkungen führen, beispielsweise Jagdverhalten. Diese mit einzuschließen, würde jedoch den Rahmen dieses Buches sprengen.
LEINENREAKTIVE HUNDE
Hunde, die sich hauptsächlich an der Leine anderen Hunden und auch Menschen gegenüber reaktiv verhalten, sind mein Steckenpferd. Man könnte meinen, dass dieses Verhalten kein großes Problem darstellt, weil man als Lösung nur die Leine wegnehmen muss. Leider funktioniert das im Alltag nicht. Ja, die Leine ist der Kern dieses Problems, aber nein, die Leine wegnehmen ist nicht die Lösung. Es gibt nun mal viele Situationen, in denen ein Hund angeleint sein muss. Zudem ist nicht jeder leinenreaktive Hund im Freilauf komplett unproblematisch. Schafft Ihr Hund es wirklich, jede Situation im Freilauf zu lösen? Haben Sie ihn und seine Körpersprache immer im Blick? Haben Sie bei Begegnungen mit Artgenossen auch den anderen Hund im Blick? Und was bedeutet es für den anderen Hund, wenn er Ihrem frei laufenden Hund begegnet? Wie kommen beide Hunde aus dieser Situation heraus? Und was macht es mit den beiden im Hinblick auf die nächsten Begegnungen ohne oder mit Leine? Viele Fragen, zu denen Sie im Kapitel „Freilauf“ mehr erfahren.
Selbst wenn leinenreaktive Hunde nicht unbedingt aggressiv und gefährlich für andere Lebewesen sind, können wir als Hundehalter mit einem solchen Hund zu einem Risikofaktor im öffentlichen Verkehr werden. Wir begegnen Spaziergängern mit Kind und Hund, Joggern, Reitern, Radfahrern und Fahrzeugen. Um Schaden anzurichten, kann es genügen, wenn der Hund sich Angst einflößend auf einen Verkehrsteilnehmer zubewegt, auch wenn sein lautes, bedrohliches Verhalten eigentlich nur aussagt, dass er keinen Kontakt haben will, zumindest nicht so schnell und nicht so nahe.
Von derart entspannten Begegnungen mit anderen Verkehrsteilnehmern können Halter von reaktiven Hunden oft nur träumen. (Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
Mit einem leinenreaktiven Hund Gassi zu gehen, gleicht häufig einem Spießrutenlauf. Man überlegt, wer wann wo unterwegs sein wird, malt sich mögliche Begegnungen aus und hofft, dass man weiträumig ausweichen kann. Man ärgert sich über das, was die anderen Hundehalter vermutlich über einen denken, und darüber, wie der eigene Hund betitelt wird. Man fragt sich immer wieder, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Die Versuchung ist groß, mit einem solchen Hund nur noch in den eigenen Garten zu gehen, sofern man einen hat. Leider reicht dies für die meisten Hunde nicht aus, denn Leben ist Bewegung und Bewegung ist Leben. Spaziergänge müssen keine großen Touren sein und es muss auch nicht körperlich anstrengend werden, aber tägliche Abwechslung für den Kopf und Auslauf für den Körper über die Grenze des eigenen Gartens oder Hofs hinaus sollten einem Hund schon geboten werden. Es handelt sich um Grundbedürfnisse, denn Hunde sind neugierig, darauf ausgelegt, ihre Nase zu benutzen, und ihr Körper ist dazu gebaut, sich frei bewegen zu können. Wir müssen also mit Rücksicht auf Rasse, Körperbau, Alter und körperliche Befindlichkeit unseres Hundes Gassirunden organisieren, die befriedigend, aber auch zu bewältigen sind.
LEICHT REIZBARE, MIT IHRER UMWELT ÜBERFORDERTE HUNDE
Die generelle Reizbarkeit, die ich in den letzten Jahren im Training immer öfter erlebe und von der nicht nur Auslandstierschutzhunde betroffen sind, ist unter Umständen belastender als ein spezifisch leinenreaktiver Hund. In der Regel sind es Hunde, die über alle Sinne gereizt werden, auch wenn man das als Mensch nicht so genau wahrnehmen oder nachvollziehen kann. Stellen Sie sich vor, wie überfordernd ein ganz normaler Spaziergang sein kann, wenn Reize und Impulse auf einen Organismus einprasseln, der permanent mit ausgefahrenen hypersensiblen Antennen unterwegs ist. Häufig lässt sich schwer einschätzen, ob diese Hunde nun unter Angst, Schmerzen oder dauerhafter körperlicher, emotionaler oder mentaler Erschöpfung leiden, Panikreaktionen zeigen oder so hoffnungslos überfordert und verzweifelt sind, dass sie körperlich reagieren. Ihr autonomes Nervensystem ist permanent auf Alarmstufe Rot, ihr Sympathikussystem läuft ununterbrochen auf Hochtouren (mehr dazu später im Abschnitt „Was bedeutet Stress im Alltag?“).
Wenn nicht alle anderen Faktoren berücksichtigt werden, hilft es bei solchen Hunden wenig, ruhiges Verhalten zu trainieren und unter Signal zu stellen oder in hypoallergenes Futter zu investieren. Die Spaziergänge dahin zu verlegen, wo es besonders belebt ist – mit der Begründung, dass der Hund es ja mal lernen muss –, bedeutet für diese Hunde eine regelrechte Überflutung. Es kann sein, dass sie sich, von außen betrachtet, dann tatsächlich auffällig ruhig verhalten. In Wahrheit liegt das jedoch daran, dass ihr System überlastet ist und dichtmacht. Und wie bei allem im Leben gilt: Wenn ein Aspekt „gedeckelt“ wird, öffnet sich oftmals eine neue Baustelle … die größer ist.
Gassirunden sollten für Hund und Mensch schön und entspannend sein.
(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
Gassirunden sind nicht dazu da, „gegen“ Ihren Hund zu agieren. Vielmehr geht es darum, seine Möglichkeiten und Fähigkeiten anzusprechen und zu berücksichtigen, egal, wie es um diese gerade bestellt ist. Nötig ist hier zunächst mal ein „Reset“: Spaziergänge sollten nicht mehr mit Erregung, Verunsicherung oder Überwältigung verknüpft werden, sondern mit angenehmen und sogar entspannenden Momenten. Das gelingt einfacher, als man vermutet.
KATRIEN LISMONT
„ES IST DIE ÜBERFORDERUNG WÄHREND DES VORIGEN SPAZIERGANGS, DIE DIE ERREGUNG VOR DEM NÄCHSTEN ENTSTEHEN LÄSST.“
Was will Ihr Hund mit „großem“ Verhalten sagen?
•Ich brauche Hilfe.
•Ich bin mit der Situation überfordert.
•Ich will hier weg.
•Ich möchte, dass die Reize verschwinden.
•Mir geht es nicht gut.
•Mir tut etwas/vieles weh.
•Ich weiß nicht, was du von mir erwartest.
•Ich habe keine Lösung für diese Situation.
•Ich habe versucht, es leiser zu sagen, aber ich fühle mich nicht verstanden.
Was will er Ihnen damit nicht sagen?
•Sorry, aber da muss ich durch.
•Ich habe nur ein wenig Angst.
•Das da ist kein Grund für Angst in dem Ausmaß.
•Ich übertreibe es gern ein wenig, das bringt mir Aufmerksamkeit.
•Ich bin stur und möchte das hier so nicht.
•Ich möchte bestimmen, wie es geht.
•Ich bin ein böser, unerzogener Hund.
•Es hilft mir, wenn du lauter und immer forscher mit mir sprichst.
•Ich brauche eine härtere Hand.
Mit „großem“ Verhalten