Das Gassi-Buch für besondere Hunde. Katrien LismontЧитать онлайн книгу.
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(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
WAS HAT GASSIGEHEN MIT VERHALTENSTRAINING ZU TUN?
Verhalten befindet sich stets im Wandel und Lernen findet immer statt. Unsere Hunde reagieren also ständig auf das, womit sie in ihrer Umwelt konfrontiert werden. Eine Erfahrung, die der Hund heute macht, wird sein Verhalten in der nachfolgenden ähnlichen Situation beeinflussen. Das kann der nächste Jogger auf der gleichen Runde sein, der Nachbarshund bei der Runde am nächsten Tag oder auch der Freilauf mit „Kumpeln“ in der nächsten Woche.
Solche Erlebnisse sind nicht nur Begegnungen mit anderen Artgenossen, sondern bei bestimmten Hunden geht es auch darum, wie sehr der Spaziergang ihren Körper gefordert hat, wie beeindruckend die unterschiedlichen Reize waren und wie gut sie damit umgehen konnten. Die körperliche, emotionale und mentale Fähigkeit jedes einzelnen Hundes beeinflusst ebenfalls, wie er mit schwierigen Situationen zurechtkommt. Das Bestreben aller Hunde ist, unversehrt und mit möglichst wenig Konflikten aus einer Situation herauszukommen. Nicht mehr und auch nicht weniger.
Eins ist sicher: Für jedes Verhalten Ihres Hundes gibt es einen triftigen Grund. Dieser ist nicht zwingend einer genetischen Eigenschaft (seine Mutter war auch so), einem unerklärlichen Charakterzug (die Hunde dieser Rasse sind alle so …) oder seiner Herkunft (Tötungsstation, schlechte Haltung …) zuzuschreiben. Manchmal reicht ein abschüssiger Weg mit grobem Schotter, um Ihren Hund zu einem Sitzstreik zu veranlassen. Vielleicht sind seine Pfoten überempfindlich, weil ihn anderswo im Körper Schmerzen plagen? Oder vielleicht tun ihm die Schultergelenke weh, vor allem bergab. Er will Ihnen mit seinem Verhalten nicht zeigen, wer das Sagen hat oder wer der Stärkere ist. Er möchte weder bestimmend noch bockig oder dumm sein. Er handelt so, wie es für ihn gerade am günstigsten scheint. So passen unsere Hunde Tag für Tag, Gassirunde für Gassirunde ihr Verhalten an. Sie streben ein konfliktfreies, harmonisches Dasein an. Nur verstehen wir häufig ihr Verhalten nicht oder falsch und ergreifen Maßnahmen, um es zu unterbinden oder zu bestrafen. Das ist dann der Punkt, an dem viele Hunde auf Plan B zurückgreifen und zum „besonderen“ Hund werden: weil wir ihre leisen Zeichen übersehen und übergangen haben.
Was genau können Gassirunden bewirken?
Meine Antwort ist: Eine Menge! Für viele Hunde sind sie die Highlights in ihrem Alltag, der sich meistens in unseren vier Wänden abspielt. Sie bieten die Möglichkeit, an die frische Luft zu kommen, die Nase und das Hirn mit Millionen von Geruchsinformationen zu stimulieren, den Körper zu bewegen, Impulse für alle Sinne zu sammeln und auch für andere Hunde Informationen zu hinterlassen. Für viele besondere Hunde ist damit allerdings auch eine körperliche, mentale und emotionale Überforderung verbunden.
Ideal ist daher, die Gassirunden so zu gestalten, dass ein sensorischer Input über alle Sinne in für den jeweiligen Hund angemessener Dosis erfolgt. „Den Hund Hund sein lassen“, etwas, was häufig propagiert wird, klingt erst mal toll und empathisch. Wenn wir bei unseren Runden jedoch ausschließlich das tun, werden wir in Bezug auf die Schwierigkeiten im Alltag nicht viel weiter kommen. Wir brauchen Interaktion, Kooperation und Kommunikation mit unserem Hund, vor allem unterwegs. Es geht darum, dass wir als Sozialpartner kommunizieren und Dinge miteinander unternehmen. Die Kommunikation sollte dabei in zwei Richtungen stattfinden: Einerseits müssen wir Menschen die Körpersprache und Handlungen des Hundes in den kleinsten Details wahrnehmen, verstehen, darauf eingehen und ihm gegebenenfalls helfen. Andererseits müssen wir ihm in Form von einigen wichtigen Signalen Verhaltensweisen beibringen, die für die gemeinsame Bewältigung des Alltags nützlich sind und den damit verbundenen Stress reduzieren können. Ritualisierte und routinierte Abläufe wie zum Beispiel, sich beim Vorbeifahren eines Autos an den Wegrand zu setzen, sich nach einem Abruf anleinen zu lassen oder sich auf Distanz hinzusetzen, können lebensrettend sein.
Gassirunden sind eine gute Gelegenheit, die Kommunikation zwischen Mensch und Hund zu verbessern.
(Foto: Katrien Lismont)
Auf der körperlichen Ebene brauchen Hunde Bewegung, denn auch ihr Körper hat einen Kreislauf, einen Stoffwechsel, Gelenke, Muskeln, Sehnen und Bänder, die aktiv und geschmiert bleiben sollen.
Gerade bei besonderen Hunden ist es wichtig, die Zeichen, die sie aussenden, wahrzunehmen und richtig zu deuten, um die Gassirunden angenehm zu gestalten. Dazu bedarf es der Aufmerksamkeit des Hundehalters und auch einer guten Begleitung durch eine Hundetrainerin oder einen Hundetrainer. Nur so ist es möglich, dass diese Hunde in keinem Bereich unter- oder überfordert werden. Ich trainiere mit besonderen Hunden häufig unterwegs, da ich hier sofort praktische Maßnahmen, Übungen und Beschäftigungsmöglichkeiten zeigen kann, die bereits innerhalb eines einzelnen Spaziergangs eine Veränderung in der Interaktion zwischen dem Hund und seinem Menschen bewirken.
Die sorgfältige Auswahl der Strecke, eine achtsame Interaktion, leichte, sinnvolle Übungen und Aufgaben mit effektiven Belohnungen strengen vielleicht etwas an, aber sie erweitern auch den Horizont für die Hunde, deren Universum aufgrund ihres Verhaltens immer kleiner zu werden droht.
Was bedeutet Stress im Alltag?
In diesem Kapitel möchte ich die Auswirkungen von Stress auf den Körper vereinfacht und in Kürze darstellen. Diese Beschreibung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch denke ich, dass es wichtig ist, wenn wir als Hundehalter wissen, was Stress anrichtet und wie er sich auf das Verhalten auswirkt. Stress und das Bewältigen von Stresssituationen gehören zum Leben. Unser Alltag, unser Umfeld, unsere Umwelt, unser Lebensrhythmus und unsere Abläufe sind allerdings keineswegs das, was der genetischen Veranlagung unserer Hunde entspricht.
Tipp für aufregende Situationen
Ich empfehle, jede Aufregung, die unterwegs entsteht, an Ort und Stelle zu „bearbeiten“ und dafür von vornherein etwas Reservezeit einzuplanen: Indem Sie Ihrem Hund Tag für Tag Zeit und Raum geben, sich mit den unterschiedlichsten Reizen auseinanderzusetzen, trainieren Sie kontinuierlich an seinem Verhalten.
Wenn Sie aufregende Situationen jedes Mal gemeinsam so bewältigen, dass Sie nach einiger Zeit wieder in Ruhe weitergehen können, ist das viel wichtiger, als große Strecken zurückzulegen. Auf diese Weise lösen Sie nach und nach die Verknüpfung „Spaziergang = Stress und Überforderung“, wodurch die Erregung Ihres Hundes vor dem Spaziergang nicht mehr so stark steigt. Schnell aus der Situation flüchten bewirkt hingegen das Gegenteil: Aufregende Situationen werden mit noch mehr Aufregung verknüpft. Die durch die Flucht entstehende Distanzvergrößerung zum Auslöser verstärkt diesen unerwünschten Effekt zusätzlich.
Zurückschauend werden die meisten von uns wohl feststellen, dass noch vor zehn Jahren unser Leben einen anderen Rhythmus hatte und das Angebot an Ablenkungen, Beschäftigungen, Aktivitäten, Kommunikations- und Unterhaltungsmitteln geringer war. Dass so viele Hunde mit dem Alltag überfordert sind und nur noch überreizt durchs Leben gehen, lässt sich für mich zumindest teilweise damit erklären, dass die Spezies Hund bei dieser ultraschnellen Entwicklung nicht mehr nachkommt. Wir Menschen haben unsere Muster und unsere Motivationen, diese sind jedoch für die Hunde nicht nachvollziehbar und decken sich nicht mit ihren Erwartungen an das Leben. Viele Hunde sind mit unserer Vorstellung von einem erfüllten Alltag schlicht und ergreifend überfordert. Dadurch entsteht negativer, belastender Stress. Wenn dazu noch schlechte Erfahrungen oder zusätzliche Stressoren im Körper kommen, kann es überwältigend werden. Hier können wir nur eines tun: Stressor