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Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard BrunnЧитать онлайн книгу.

Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute - Gerhard Brunn


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danach ermittelte eine Expertenkommission die europäischen Bedürfnisse unter der Maßgabe, nicht nur eine Einkaufsliste zusammenzustellen, sondern sich auch über Richtlinien einer engeren wirtschaftlichen Zusammen- und Aufbauarbeit zu verständigen. Die desolate Wirtschaftslage und die in Aussicht gestellte kolossale Hilfe drängten die Kommission zur Eile und verhinderten einen ausufernden Streit. Noch im September legte die Kommission einen Bericht vor, in dem sie den ihrer Meinung nach notwendigen Umfang der Hilfe mit 19 Milliarden Dollar bezifferte. Wegen der nationalen Sonderinteressen, unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen und tiefverwurzelter protektionistischer Mentalitäten kam man allerdings in der Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit über Absichtserklärungen nicht wesentlich hinaus. Man sagte zu, die Schotten zwischen den nationalen Volkswirtschaften etwas zu öffnen und den multilateralen Handel wieder aufzunehmen. Auch schlugen Frankreich und Italien eine westliche Zollunion vor, aber Großbritannien lehnte sie wegen seiner Commonwealth-Verbindungen ab und die Beneluxländer wegen der befürchteten französischen Hegemonie. Die Beneluxstaaten aber setzten zum 1. Januar 1948 ihre schon 1944 vereinbarte Zollunion in Kraft.

      Europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit – Die OEEC

      Nachdem sich die sechzehn europäischen Länder im September 1947 auf eine gemeinsame Vorlage an die US-Regierung geeinigt hatten und nachdem die innenpolitischen Stürme in Frankreich und Italien überwunden worden waren und die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei im Februar 1948 dem amerikanischen Kongress die kommunistische Gefahr noch einmal handfest vor Augen geführt hatte, verabschiedete er im April 1948 das Gesetz (»Foreign Assistance Act«) über Umfang und Modalitäten des »Europäischen Wiederaufbauprogramms« (»European Recovery Program«, ERP). Damit nahm der Marshallplan Gestalt an. Das Gesetz sah zwar einerseits bilaterale Verträge vor, verlangte aber andererseits, die Verwaltung bzw. Verteilung der Mittel einer gemeinsamen Organisation zu übertragen, um eine Koordination der wirtschaftlichen Planungen und Aktivitäten der Empfängerstaaten möglich zu machen. Zu diesem Zweck gründeten die 16 Regierungen und die Militärgouverneure treuhänderisch für die drei westdeutschen Besatzungszonen die »Organization for European Economic Co-operation« (OEEC). Die Franzosen wollten die OEEC nach dem Muster ihrer Planungsbehörden als supranationale technokratische Institution mit weitgehenden Entscheidungsbefugnissen gegenüber den Empfängerländern konstruieren, aber Bevin bestand darauf, dass die OEEC nur geringe Befugnisse haben dürfe und alle offiziellen Entscheidungen von den Mitgliedsstaaten getroffen werden müssten. Er setzte sich durch, und die OEEC wurde keine supranationale Behörde, sondern blieb eine ständige Konferenz souveräner Staaten mit einem zur Einstimmigkeit verpflichteten Ministerrat als Entscheidungsorgan. Die OEEC bildete den organisatorischen Rahmen für die Verteilung der Hilfsmittel, die sich bis zum Ende des Programms auf 13 Milliarden Dollar summierten.

      Der Marshallplan hatte eine enge und dauerhafte Zusammenarbeit zum Ziel. Er enthielt eine Anzahl spezifischer Zielsetzungen wie den Ausbau der Handelsbeziehungen, Zollsenkungen, den Auftrag, die Errichtung von Zollunionen oder Freihandelszonen zu untersuchen, die Währungen zu stabilisieren, für ausgeglichene Etats zu sorgen, Vollbeschäftigung anzustreben. Kurz, die OEEC sollte die westeuropäische Wirtschaft zu einer liberalen, privat- und marktwirtschaftlichen Ordnung nach US-Vorbild umformen und sie in eine offene Weltwirtschaft einbringen.

      Das Urteil der Historiker über den Marshallplan ist keineswegs einhellig. Die Kontroversen betreffen die amerikanischen Motive für die Hilfe, den Anteil des Marshallplans am europäischen Wirtschaftsaufschwung und seine Bedeutung für die westeuropäische Integration.

      Die Amerikaner propagierten den Marshallplan als humanitäres uneigennütziges Hilfsprogramm; in Gedenkreden und im kollektiven Bewusstsein lebt dies Bild bis heute fort. In Wirklichkeit trafen Selbstlosigkeit und Eigeninteresse auf das Glücklichste zusammen. Die USA besaßen ein überaus großes Interesse an der »Rettung« Westeuropas, das wegen seiner geopolitischen Lage und seiner gewaltigen Ressourcen auf keinen Fall in die Hände des weltpolitischen Konkurrenten fallen durfte. Außerdem war die amerikanische Wirtschaft, wenn sie nicht in eine Krise geraten sollte, zwei Jahre nach Kriegsende dringend darauf angewiesen, einen Absatzmarkt für ihre Überschussproduktion zu erhalten. Europa hungerte nach amerikanischen Waren, besaß aber weder Dollars, um sie zu erwerben, noch war es in der Lage, die Dollars mit Hilfe von Exporten zu verdienen. Darauf wies Marshall in seiner Rede in Harvard ausdrücklich hin. Das »Hilfs«-Programm war also zugleich ein großes Absatzförderungsprogramm für die amerikanische Wirtschaft und ein Programm zur Durchsetzung einer liberalen Weltwirtschaft im Interesse der kapitalistischen Großmacht USA.

      Zum anderen ist der Marshallplan als »Rettungsring für Europa« bezeichnet oder als Treibsatz für den unerwartet schnellen wirtschaftlichen Aufschwung Westeuropas gesehen worden. Dieser Interpretation widersprechen Wirtschaftshistoriker mit überzeugenden Argumenten. Nach ihren Erkenntnissen hatte der Aufschwung bei Beginn des Marshallplans längst auf breiter Front eingesetzt, und die Hilfsmittel hatten keinen ausschlaggebenden Einfluss auf seinen weiteren Verlauf. So deutlich dies in der Retrospektive auch zu erkennen sein mag, die Zeitgenossen hatten schreckliche wirtschaftliche Szenarien vor Augen, und in dieser Situation entfalteten die amerikanische Hilfsankündigung und ihre enorme propagandistische Begleitung zweifellos eine außerordentliche positive psychologische Wirkung. Sie schufen eine optimistische Stimmung, Vertrauen in die Zukunft und stärkten die Überzeugung, dass sich der Einsatz für eine bessere wirtschaftliche Zukunft lohne.

      Drittens ist die Bedeutung des Marshallplans bzw. der OEEC für die europäische Einigung völlig gegensätzlich beurteilt worden. Der Bewertung als Laboratorium der europäischen Einigung steht das Verdikt des britischen Historikers Alan Milward gegenüber, der Plan sei ein Hindernis für die europäische Integration gewesen und habe sie verzögert. Das amerikanische Geld habe ermöglicht, sich der europäischen Zusammenarbeit zu verschließen und sich allein auf eine nationale Wiederherstellung zu konzentrieren. Milwards Urteil ist überspitzt. Zwar ist es richtig, dass die OEEC nicht ihren Auftrag erfüllen konnte, ein kohärentes europäisches Wiederaufbauprogramm, grenzüberschreitende gemeinsame Märkte oder gemeinsame übernationale Institutionen zu schaffen und an diese nationale Zuständigkeiten abzugeben. Aber Integration heißt nicht nur, sich zusammenzuschließen, sondern auch Hindernisse, die einer Kooperation oder einem Zusammenschluss entgegenstehen, zu beseitigen. Diese Beseitigung von Kommunikations- und Interaktionshindernissen ist auch eine Form der Integration, die »negative Integration«. Der OEEC gelang sowohl eine Liberalisierung des Handels über den Abbau von quantitativen Einfuhrbeschränkungen als u. a. auch eine Erleichterung des Zahlungsverkehrs mit Hilfe der Europäischen Zahlungsunion vom September 1950 weit über das hinaus, was anfangs möglich schien. Insofern lieferte der Marshallplan das, wenn auch bescheidene Modell einer »negativen« Integration.

      Die Zusammenarbeit der europäischen Länder im Rahmen des ERP-Programms förderte eine prinzipiell kooperationsbereite Einstellung. Dies erwies sich als unschätzbare Grundlage für die weitere Entwicklung zu konkreteren Formen der wirtschaftlichen Kooperation, wie sie in den fünfziger Jahren erfolgen sollte. Somit fungiert die OEEC als ein Bindeglied in der Kette jener Verpflichtungen zur Zusammenarbeit, welche die westeuropäischen Regierungen in den ersten Nachkriegsjahren akzeptierten und die zum Ausgangspunkt für den eigentlichen Integrationsprozess wurden.

      Militärische Allianzen – Vom Pakt von Dünkirchen zur NATO

      Die wirtschaftliche, politische und rechtliche Integration in Westeuropa in den Jahrzehnten nach 1945 wäre ohne den militärischen Sicherheitsschirm der USA nicht durchführbar gewesen. Deshalb ist ein Blick auf die militärischen Bündnisse und den amerikanischen Beitrag dazu notwendig. Für die gerade der NS-Herrschaft entronnenen westeuropäischen Staaten, insbesondere Frankreich, hieß Sicherheitspolitik in den ersten Nachkriegsjahren, Vorkehrungen für den Fall der Erneuerung einer deutschen Aggressionspolitik zu treffen. Der »Dünkirchener Pakt« zwischen England und Frankreich, den die Außenminister der beiden Länder am 4. März 1947 unterzeichneten, hatte für Großbritannien den Zweck, Frankreich zu stabilisieren und seine weiterhin bestehenden Ängste vor einem Wiedererstarken Deutschlands und dessen Aggressionsbereitschaft zu beruhigen. Angesichts der Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes im Jahre 1947 waren beide Mächte immer stärker daran interessiert, die USA für eine nachhaltige Beteiligung


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